Von Alexander W. Hunziker — Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene (XXVI): Ärger ist jene Emotion, die immer häufiger vorkommt, obwohl sie völlig sinnlos ist: Ärger ist nie eine angemessene Reaktion. Der Ärger bringt uns dazu, Dinge zu tun, die nicht in unserem Interesse sind. Er schadet uns selbst, und nicht jener Person, auf die sich der Ärger richtet. Evolutionsbiologen deuten Ärger als wichtige Funktion in einer primitiven Gesellschaft ohne Polizisten: Ärger sorgte dafür, dass Stammesnormen eingehalten wurden, weil ärgerliche Individuen gegen ihr eigenes Interesse verstiessen, um Stammesgenossinnen und –genossen zu bestrafen, welche sich nicht an die Regeln hielten. Vom bösen Blick bis zum Wutausbruch mit tödlichem Ausgang – sei es für den Normenübertreter oder für den Geärgerten – war alles möglich. Solche Gesellschaften hätten im sozialdarwinistischen Evolutionsprozess bessere Chancen gehabt und sozusagen den Ärger an uns vererbt. Ein Blick in unsere moderne Welt zeigt aber klar, dass Ärger eine überholte Emotion ist. Nicht nur Polizisten, sondern auch Marktmechanismen und ausgeklügelte Bonus-Malus-Systeme sowie Zielvereinbarungsprozesse steuern unser Verhalten und bestrafen Regelbrecher viel effizienter. Heute könnte sich der Ärger sinnvollerweise nur noch gerade auf den Sozialisationsprozess von Kindern innerhalb der Familie beziehen, und selbst da ist er überflüssig, wenn man modernen Erziehungsratgebern glauben darf.
Aber wo kämen wir denn da hin, wenn sich keiner mehr ärgern würde? Wenn der Mitarbeiter der Chefin sachlich erklären würde, dass ihn die nicht erhaltene Lohnerhöhung stört, er aber diesen Entscheid nicht in Frage stellt. Und nächsten Monat emotionslos kündet. Und wenn die Chefin wiederum völlig emotionslos feststellt, dass es sie stört, dass der Mitarbeiter nicht weiter das Gespräch gesucht, sondern einfach gekündigt hat, weil ihr das nun viel Zusatzarbeit bereitet, diesen Entscheid aber nicht in Frage stellt. Wäre das eine bessere Welt? – Wohl kaum. Herzspezialisten würden entlassen, blutdrucksenkende Mittel würden kaum mehr abgesetzt, Psychopharmaka würden weitgehend überflüssig, die entsprechenden Forschungsvorhaben müssten eingestellt werden, kurz: Die Gesundheitsbranche würde auf einen Schatten ihrer selbst schrumpfen und weitere, abhängige Branchen mit sich reissen, was eine weltweite Rezession auslösen würde, welche selbst Präsident Obama noch nie gesehen hat. Das Time-Magazine würde von der «annoyance bubble» sprechen, von der Ärgerblase, die geplatzt ist, nachdem allen Mitarbeitenden, Chefs, Selbständigerwerbenden, Müttern und Hausfrauen schlagartig klar geworden ist, dass sich Ärger nicht auszahlt; und daher beschlossen haben, ab sofort ganz egoistisch zu sein und gelassen zu bleiben, die Welt nicht mehr ändern zu wollen, und schon gar nicht das Verhalten anderer Menschen.
Wenn man nur den Hang zum Egoismus in unserer Gesellschaft anschaut, scheint das Horror-Szenario durchaus realistisch. Aber eben, so einfach ist es zum Glück nicht. Von der Einsicht zur Handlung ist es ein weiter Weg. Und solange wir uns noch ärgern, können wir uns auch darüber ärgern, dass wir es nicht schaffen, uns weniger zu ärgern. Und dann weiter unseren gesellschaftlich wertvollen Beitrag zum Tranquilizer-Absatz leisten. – Zugegeben, das beschriebene Horror-Szenario wäre nicht ganz so schlimm, wie es im ersten Moment aussieht. Denn immerhin würde sich ja dann konsequenterweise niemand über die gigantische Rezession ärgern. Und das wäre ja dann auch etwas.
Foto: zVg.
ensuite, September 2013