Von Heike Gerling — Noch bis zum 1. Juni zeigt das Zürcher Museum Rietberg eine Ausstellung, die man sich nicht entgehen lassen sollte: Zu entdecken sind etwa 40 westafrikanische Künstler, deren bildhauerisches Schaffen in der Ausstellung durch rund 200 hervorragende Werke repräsentiert ist. Die Skulpturen und Masken von beeindruckender Intensität und Schönheit bestehen vorwiegend aus Holz und stammen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, also aus vorkolonialer und kolonialer Zeit. Ihnen werden am Schluss der Ausstellung die Werke von drei zeitgenössischen ivorischen Bildhauern gegenübergestellt.
Die Ausstellung widerlegt eindrücklich das noch heute verbreitete Vorurteil, es habe in der afrikanischen Kunst generell keine «wirklichen» Künstler gegeben, sondern bloss anonyme, in Stammeswerkstätten organisierte Kunsthandwerker.
Sechs wichtige Kunstregionen der Elfenbeinküste werden in der Ausstellung durch Meister repräsentiert, deren figürliche Kunst sie berühmt gemacht hat: Die Siedlungsgebiete der Guro und Baule im Zentrum, der Dan im Westen, der Senufo im Norden, der Lobi im Nordosten, und der Lagunen-Völker im Südosten des Landes. De Siedlungsgebiete der Ethnien setzten sich über die Landesgrenzen hinaus in die jeweiligen Nachbarländer des Staates Côte d’Ivoire fort: So findet man die Dan und ihre Kunst auch in Liberia, die Senufo auch im Süden Mails, und die Lobi grösstenteils in Burkina Faso und Ghana.
Auf der Basis jahrzehntelanger kunstethnologischer Forschung stellen die Initiatoren der Ausstellung, der frühere langjährige Direktor des Museums Rietberg, Eberhard Fischer, und der Afrika-Kurator Lorenz Homberger, die individuellen Oeuvres ausgezeichneter Künstlerpersönlichkeiten vor – deren Namen aber in den seltensten Fällen bekannt sind. Die Forscher mussten aus diesem Grund immer wieder Zuschreibungen vornehmen, oder mit «Notnamen» arbeiten, die teils von stilistischen Merkmalen der Werke abgeleitet wurden, teils aber auch von anderen Anhaltspunkten wie etwa den Namen ihrer wichtigsten Kunstsammler oder ‑händler. Das weist auf die prekäre Quellenlage wissenschaftlicher Forschung auf diesem Gebiet hin, schmälert aber weder den künstlerischen Wert noch die Bedeutung der Werke und ihrer Schöpfer.
Um nur schon die ästhetischen Qualitäten der Arbeiten, die stilistische Vielfalt der bildnerischen Abstraktionen, den Erfindungsreichtum und die gleichzeitige formale Strenge der Werke gebührend zu würdigen, kann man ohne weiteres ganze Tage in der Ausstellung verbringen. Die künstlerischen Meister-Oeuvres werden allerdings zusätzlich ergänzt durch die Darstellung ihres künstlerischen und sozialen Kontexts. Neben Einzelwerken und Werkgruppen der Meister werden auch Arbeiten ihrer Schüler und Nachfolger gezeigt; Arbeiten von Künstlern der gleichen Region befinden sich in der Ausstellung in Sichtweite zueinander und ermöglichen es, Entwicklungslinien zu erkennen und Vergleiche zu ziehen. In Vitrinen ausgestellte, einfache Werkzeuge und kurze Filme geben exemplarisch Einblick in die Arbeitsbedingungen, den Schaffensprozess und die Werkverfahren der Bildhauer. Auch die Verwendung der fertigen Masken in Tanzritualen wurde von den Kuratoren während ihrer Feldforschungen filmisch festgehalten und in der Ausstellung anhand verschiedener Beispiele nachvollziehbar gemacht.
Am Schluss der Ausstellung zeigen Eberhard Fischer und Lorenz Homberger zeitgenössische bildhauerische Arbeiten von drei international erfolgreichen ivorischen Künstlern. Damit eröffnen sie einen weiteren, höchst vielschichtigen Reflexionsraum und laden dazu ein, sich mit dem Kunstbegriff, der gesellschaftlichen Rolle von KünstlerInnen und den gesellschaftlichen Kontextualisierungen zeitgenössischer oder älterer, ivorischer, europäischer oder internationaler Kunst aus neuer Perspektive auseinanderzusetzen. Noch weiter wurde der geistige Horizont geöffnet durch Konzerte im Kontext der Ausstellung; so etwa durch die ausserordentlich vielseitige Musikerin Dobet Gnahoré, die im Jazzclub Moods einen der Konzert-Höhepunkte des Jahres bot.
Die Vorträge einiger auserlesener Gäste im Vortragssaal der Park-Villa Rieter erweiterten schliesslich das Programm der Ausstellung um weitere spannende wissenschaftliche Perspektiven, die zum Teil auch im Katalog nachzuvollziehen sind. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, näher darauf einzugehen – nur soviel sei erwähnt: Sowohl Dr. Monica Blackmun Visunà von der University of Kentucky als auch Dr. Peter Stepan, der Direktor des Goethe-Instituts in Kigali, nahmen in ihren Vorträgen Bezug auf die von Lorenz Homberger und Eberhard Fischer im Katalog formulierte These, dass es in den von ihnen erforschten Regionen ausschliesslich männliche Künstler gegeben habe: Unabhängig voneinander erbrachten die beiden Gäste den Gegenbeweis, und ergänzten das von Eberhard Fischer und Lorenz Homberger zusammengetragene Spektrum der in der Ausstellung gezeigten Künstler-Oeuvres um ihnen bekannte Beispiele hervorragender Künstlerinnen der Region der Côte d’Ivoire.
Auch auf dieser Ebene gilt also, was die Initiatoren dieser wichtigen Ausstellung mit ihrer Forschung zur Existenz individueller Künstler in Afrika bereits gezeigt haben: Urteile, die bestimmten Menschen pauschal besondere Fähigkeiten absprechen, sind zu hinterfragen.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2014