Von Wolfgang P. Schwelle - Fortsetzung, Teil 2: Soziales Schmiermittel erster Güte. «Geh in einen Raum mit 20 Fremden. Solange alle nüchtern sind, wird kaum einer mit den anderen reden. Gib ihnen Alkohol, und sie werden eine wilde Party feiern», sagte der Autor des Kultbuchs Die feine Art des Saufens, der US-Amerikaner Frank Kelly Rich, vor ein paar Jahren einmal in einem Interview. Und nannte damit einen der wohl wichtigsten Gründe dafür, dass es die chemische Verbindung Ethanol geschafft hat, schon vor Jahrtausenden zur weitverbreitetsten Droge der Welt zu werden und das unangefochten bis heute zu bleiben: Kaum etwas kann die Kommunikation zwischen den Menschen so vortrefflich befördern wie das richtige Quantum Bier, Wein oder Co. zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
König Alkohol, wie der US-amerikanische Autor Jack London die gleichermaßen verteufelte wie vielgepriesene Substanz dereinst in einem Buchtitel sogar bezeichnet hat, ist freilich sehr viel mehr als bloß ein hervorragendes soziales Schmiermittel. Er ist das soziale Schmiermittel schlechthin… und noch viel mehr.
Von außerordentlich großer Bedeutung für seinen historisch einzigartigen Siegeszug war etwa seine Rolle als kalorienreiches Nahrungsmittel. Immerhin hat ein Gramm reiner Alkohol stolze 7,07 Kalorien oder 29,6 Joule, womit sein Brennwert etwa deutlich über dem von reinem Zucker mit rund 4 Kalorien liegt und nur von Fett mit 9,3 Kalorien übertroffen wird. Wer beispielsweise einen Liter normales Bier am Tag trinkt, schafft so jährlich zusammengezählt circa 165’000 Kalorien. Was einem, wenn man seinen Lebensstil beibehält und morgen damit durchstartet, unterm Strich ein stattliches Plus von 23 Kilo Körpergewicht in einem Jahr garantiert.
Dass vom Altertum bis weit ins 20. Jahrhundert viel mehr gebechert wurde als heutzutage, hatte aber noch andere gewichtige Gründe. Einer davon: Wer Alkohol trank, war im Vergleich zu Abstinenzlern auf der sicheren Seite. Deren Hauptgetränk Wasser war oft mit Krankheits-erregern verseucht, die einen schneller ins Grab bringen konnten als der heute so übel beleumundete «Hochkonsum» von Wein und Bier. Und bis das exzessive Saufen theoretisch zu einer Leberzirrhose hätte führen können, war man in der guten alten Zeit aufgrund der deutlich geringeren Lebenserwartung im Regelfall ohnehin schon tot. Wie vielen Menschen der Alkohol durch seine konservierenden und desinfizierenden Eigenschaften das Leben gerettet hat, lässt sich nicht sagen; dass es viele, viele Millionen waren, ist jedoch gewiss.
Natürlich war und ist der Alkohol seit Jahrtausenden per se auch ein wichtiges Kult- und Kulturgut. Als solches ist er selbst heute noch ein fester Bestandteil religiöser Zeremonien, etwa im Judentum und im Christentum, Und bei vielen anderen Ritualen natürlich ebenso. Jemanden mit Selterswasser hochleben zu lassen, mutet beispielsweise nach wie vor bei vielen Gelegenheiten recht seltsam an.
Dass er obendrein seit grauen Vorzeiten als ein gutes Betäubungs‑, Schmerz‑, Beruhigungs- und Einschlafmittel sowie als Stresskiller, Locker und Muntermacher gesehen wird, war seinem historischen Erfolg mit Sicherheit ebenfalls nicht abträglich. Zur Veranschaulichung: Wer bis ins 19. Jahrhundert hinein eine Operation oder gar eine Amputation erleiden musste, dem blieb nichts als das Einnehmen von Pflanzenextrakten, einer ordentlichen Ration Alkohol und das Vertrauen auf Gebete, um die Schmerzen zu lindern. Sowie die Hoffnung, der Eingriff möge schnell wieder vorbei sein. Was die meisten bevorzugten, erübrigt sich zu erwähnen.
Fest steht zudem: Die abendländische Kultur- und Geistesgeschichte, und nicht nur sie, wäre ohne die Hervorbringungen von Alkoholikern und schweren Trinkern um sehr vieles ärmer. In welchem Ausmaß die Droge jeweils tatsächlicher oder nur vermeintlicher Beförderer der Kreativität war, mag umstritten sein; die genannte Feststellung ist es nicht.
Ihre Bedeutung als Realitätsvernebler, als Stimmungsaufheller und als Antidepressivum, als Angstverscheucher und als Anbaggerhilfe ist jedenfalls ebenso gewaltig wie zeitlos. Die Menschen trinken, um Spannungen abzubauen, um geselliger zu werden und um Spaß zu haben, um ihren Kummer zu vergessen und den Alltagssorgen zu entfliehen, um mutiger zu werden und Ängste zu verscheuchen und aus vielen, vielen anderen Gründen. Das war schon immer so und wird wohl auch so bleiben.
Ohne jeden Zweifel ist Alkohol natürlich zudem ein Suchtmittel, ein Rausch-Gift im wahrsten Sinne des Wortes und ein Zellgift, das im Extremfall, langfristig oder innerhalb von wenigen Stunden, sogar tödlich wirken kann. Darüber hinaus ist er, für viele und in vielfältiger Gestalt, auch noch ein Statussymbol und ein Prestigeobjekt. Die einen trinken Grand Cru, die anderen billigen Fusel. Und damit ist schon sehr viel gesagt.
Und natürlich ist er ein Genussmittel. Man braucht keine Umfrage durchzuführen, um festzustellen: Die meisten Menschen nehmen alkoholhaltige Getränke zum Zwecke des Lustgewinns zu sich. Ein Glas gutes Bier oder Wein zu trinken wird von ihnen schlichtweg als sinnliches Erlebnis verstanden. Ob es dabei als Essensbegleiter dient oder nicht, spielt zumeist keine Rolle. Dem war allerdings nicht immer so: Als Genussmittel im wahrsten Sinne des Wortes, so wie heute, werden berauschende Getränke nämlich noch nicht allzu lange betrachtet. Vielmehr handelt es sich dabei um ein Phänomen der modernen Zeit. Das braucht einen nicht zu verwundern; das Gesöff, das die Menschen früher in sich reingekippt haben, war sehr häufig von einer mittlerweile unvorstellbar schlechten Qualität.
Die mächtigste Droge der Welt. Last but not least ist der Alkohol obendrein ein höchst gewichtiger Wirtschaftsfaktor. So bringt er nicht nur seit grauen Vorzeiten die Gehirne zahlreicher Künstler auf Touren, allen voran die von Schriftstellern und Musikern, sondern seit Jahren schon zudem Fahrzeuge aller Art, als klopffester Kraftstoff für Otto-Motoren. Fast alle Neuwagen, die heute in Brasilien verkauft werden, sind beispielsweise sogenannte Flex-Fuel-Modelle, die wechselweise mit Normalbenzin, mit dem als «Alcool» verkauften Ethanol sowie mit einer Misch-ung dieser beiden Treibstoffe betankt werden können. Und als Industriealkohol oder technischer Alkohol kommt er überhaupt gleich in deutlich über 400 verschiedenen Bereichen zum Einsatz. Als Brennspiritus oder als Frostschutzmittel ebenso wie als geruchstragende Substanz von Parfums und Deodorants oder als Lösungsmittel, unter anderem für Kosmetika, Arzneien, Harze und Farbstoffe. Selbst zum Enteisen von Flugzeugen vor dem Start bei klirrender Kälte wird er eingesetzt. Oder zur Erzeugung von Kunstseide, von Seifen und von Tabak sowie zur Herstellung von pilztötenden Mitteln. Zudem wird er zur Essigproduktion herangezogen und als Zusatz, um andere Lebensmittel haltbar zu machen; ja sogar im Pizzateig findet man Alkohol. Obendrein gilt er immer noch, vor allem in der Medizin, als sehr gutes Konservierungs- und Desinfektionsmittel. Von der Geburtshilfe bis zur Pathologie begleitet er den Menschen daher gleichsam von der Wiege bis zur Bahre. Zu guter Letzt ist er auch eine hervorragende Reinigungssubstanz und ein sehr gutes Messmittel, etwa in Thermometern oder Wasserwaagen. …Fortsetzung nächsten Monat.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2013