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Alle Jahre wieder auf dem Berner Hausberg

Von Hannes Liechti — Som­mer 2002: Zum ersten Mal besteige ich an den vier berühmt-berüchtigten Julita­gen den Bern­er Haus­berg. Das Gurten­fes­ti­val gehört sei­ther eben­so zum Jahres­rhyth­mus wie Früh­ling, Wei­h­nacht­en und ver­passte YB-Titel. Warum stürzt man sich Jahr für Jahr frei­willig in ein Gewühl von 20’000 Fes­ti­valbe­sucherIn­nen? Anlässlich des per­sön­lichen zehn­jähri­gen Gurten­ju­biläums ist es höch­ste Zeit, dem Mythos Gurten auf die Schliche zu kom­men. Ein Rück­blick in Form eines Gurten ABCs.

Aare. An beson­ders heis­sen Fes­ti­val­t­a­gen suchen nicht nur durchgeschwitzte Musikn­erds mit dem Gurte­n­arm­band in der schö­nen grü­nen Aare nach Abküh­lung. Immer wieder schwär­men die Bands noch hoch oben auf den Bret­tern der Gurten­bühne von ihrem nach­mit­täglichen Fluss­bad.
Bac­ar­di Dome. Das Zelt ohne Niveau ist immer wieder für Höhep­unk­te gut: Zum Beispiel, wenn um fünf Uhr mor­gens aus den Box­en Rob­bie Williams «Angels» schallt, während über der Haupt­stadt langsam die Sonne aufge­ht. Das höch­ste aller Gefüh­le. Oder gibt es etwa doch noch höhere?

Camp­en. Die Sleep­ing Zone des Gurtens lei­det unter chro­nis­chem Platz­man­gel. Eine richtige Ope­nair-Zelt­platz-Stim­mung kann bei all den Regle­men­tierun­gen kaum aufkom­men. Wer in Bern auf eine alter­na­tive Schlafmöglichkeit zurück­greifen kann, verzichtet unter keinen Umstän­den auf die warme Dusche und die gemütliche Matratze. Vielle­icht bin ich aber auch ein­fach nur zu bequem.

Don­ner­stag. 2004 fand das Gurten­fes­ti­val erst­mals an vier Tagen statt. Sei­ther bietet der Don­ner­stag die vorzügliche Möglichkeit, sich bei etwas weniger Gedränge auf dem Gurten fortzube­we­gen. Dafür wird auch weniger geboten. Sich­er ist: Ein gelun­ge­nes Fes­ti­val wäre auch an drei Tagen zu haben.

Ent­deck­un­gen. Das Gurten­pro­gramm ist glück­licher­weise wed­er etwas für Stilpuris­ten noch taugt es für Besuch­er, die sich auss­chliesslich von grossen Namen beein­druck­en lassen. Dafür wartet das Line-Up immer wieder mit wahren Ent­deck­un­gen auf, darunter etwa der nieder­ländis­che Hip-Hop-Jazz von Pete Philly (’08), die rhyth­misch-vir­tu­osen Gitar­renakro­bat­en Rodri­go y Gabriela (’10) oder die grandiosen Soli des Ped­al-Steel-Gitar­ris­ten Robert Ran­dolph (’11).

Fuss­weg. Gurten­mythos Nr. 1: Der Fuss­weg auf den Gurten dauert weniger lang, als für die Gurten­bahn Schlange zu ste­hen. Der Selb­stver­such mit Stop­puhr zeigte Gegen­teiliges: Für die Fahrt mit der Bahn sind durch­schnit­tlich 20 bis 25 Minuten aufzuwen­den. Zu Fuss ist der Weg in dieser Zeit aber nur sehr zügi­gen Schrittes zu bewälti­gen. Garantiert falsch sind die über­triebe­nen Zei­tangaben auf den offiziellen Schildern.

Gurten­wiese. Eine Geheimwaffe des Fes­ti­vals. Die Konz­erte auf der Haupt­bühne lassen sich liegend von der Pick­nick­decke aus mitver­fol­gen. Hier­für muss aber das Wet­ter mit­spie­len, während die Hanglage für eine gute Sicht sorgt.

Haus­berg. Mit­ten in Bern und doch das Gefühl, weitab der Stadt zu sein. Die Lage auf dem Berg ver­lei­ht dem Fes­ti­val eine einzi­gar­tige Atmo­sphäre. Die zweite Geheimwaffe.

Infra­struk­tur. Abfüll­sta­tio­nen für Trinkwass­er, Boden­plat­ten, kein einziges «Toi Toi»-Häuschen weit und bre­it und dafür eigens errichtete Gerüste für die WC-Anla­gen. Die Fes­ti­val­in­fra­struk­tur wird jedes Jahr weit­er­en­twick­elt und ist die ver­mut­lich pro­fes­sionell­ste weltweit. Was kommt alles noch? Boden­heizung vor der Haupt­bühne oder Swim­ming Pool in der Sleep­ing Zone?

Jassen im Tapis Rouge. Warum das Restau­rant im alten Gurten-Hotel nicht ein­mal bei strö­men­dem Regen über­füllt ist, ver­ste­he ich bis heute nicht. Von einem trock­e­nen und war­men Sitz­platz über preiswertes Essen bis hin zu ein­er sauberen Toi­lette hat das Selb­st­be­di­enungsrestau­rant alles zu bieten. Wed­er Jassen, noch ein kurzes Nick­erchen in der neuen Red Lounge ist ver­boten.

Kopfweh. Kann während des Fes­ti­vals dur­chaus ein­mal auftreten. Das beste Rezept dage­gen sind grandiose Son­ntag­mor­gen-Konz­erte wie jenes des Soul- und Blues-Predi­gers Solomon Burke 2008. Wem das nicht hil­ft, sucht bei den für viele über­leben­snotwendi­gen Kaf­fee-Stän­den Zuflucht.

Let­ztes Konz­ert auf der Zelt­bühne. Ein sicher­er Wert im Pro­gramm, der von vie­len Besuch­ern lei­der bere­its nicht mehr beachtet wird. Energiege­ladene und tanzbare Gute-Laune-Musik ver­drängt die in vier Tagen anges­taute Müdigkeit im Nu. Dieses Jahr mit Katzen­jam­mer sog­ar eines der stärk­sten Konz­erte des Fes­ti­vals.

Mit­tel­sta­tion. Die Gurten­bar bei der Mit­tel­sta­tion ist ein Plä­doy­er für den Fuss­weg. Wer kurz davor noch keinen Sirup gekauft und es dabei ver­passt hat, die frühkap­i­tal­is­tis­chen Gehver­suche der Quartier­skinder aus dem Spiegel zu unter­stützen, find­et hier Erfrischung und nicht immer über alle Zweifel erhabene Musik auf dem anstren­gen­den Weg nach oben.

Nacht­busse. Der Shut­tle­bus zum Haupt­bahn­hof reicht bei Weit­em nicht aus. Unver­ständlich, weshalb keine Nacht­busse in die ver­schiede­nen Bern­er Aussen­quartiere verkehren. Für Sleep­ing Zone absti­nente Men­schen hil­ft also nur noch ein Velo oder die erste Tram­bahn.

Ohren­stöpsel. Sind bald nicht mehr nötig. So war die Laut­stärke der Musik auf der Zelt­bühne in diesem Jahr über­raschend leise. Die Fes­ti­valver­ant­wortlichen bestre­it­en Dez­i­belbeschränkun­gen als Ursache. Man darf ges­pan­nt sein, ob es näch­stes Jahr auf dem Gurten eine Phonak-Lounge geben wird.

Parisi­enne Block. Jede Spon­soren-Lounge und jedes Dance-Tent hat mit­tler­weile sein eigenes Musikpro­gramm. Das kann auch zum Prob­lem wer­den: Ger­ade dem Parisi­enne Block gelingt es immer wieder, intime Momente der Zelt­bühne mit einem stampfend­en Four-on-the-Floor-Beat empfind­lich zu stören.

Qual. Es gibt einiges, was in den ver­gan­genen zehn Jahren Gurten nicht nötig gewe­sen wäre. Abge­se­hen vom näch­sten Buch­staben waren das beispiel­sweise Mike Skin­ners (The Streets) Alko­holeska­paden (’04), Culcha Can­de­las Kinderge­burt­stag (’08) oder Bran­don Flow­ers Testos­teron geschwängerte Star­posen (’11).

Regen. Gurten­mythos Nr. 2: Ohne Regen, kein Gurten. Von den let­zten zehn Aus­gaben des Fes­ti­vals waren die ersten fünf kom­plett trock­en. Sta­tis­tisch gese­hen, kön­nen wir uns nun also auf fünf Jahre mit bestem Gurten­wet­ter freuen.

Schle­ich­weg. Der schnell­ste Weg von Haupt- zu Zelt­bühne führt nicht durch das Getüm­mel, son­dern aussen herum, über den Schle­ich­weg durch den «Zauber­wald» zwis­chen Back­stage­bere­ich und Sleep­ing Zone. Ein Geheimtipp.

Tiere. Wer denkt, Tiere gehörten höch­stens als Bestandteil von Band­na­men an ein Open-Air, der irrt gewaltig. Die Schot­tis­chen Hochlandrinder, die in der Nähe der Bergsta­tion wei­den, scheinen sich vom alljährlichen Fes­ti­val­trubel in kein­er Weise aus der Ruhe brin­gen zu lassen und sind jedem regelmäs­si­gen Gurtenbe­such­er wohl bekan­nt. Die Tiere gäben eigentlich ein gutes Fes­ti­val-Maskottchen ab.

Unvergessene Konz­erte. Wie zum Beispiel das Trom­mel­ge­wit­ter von Asian Dub Foun­da­tion (’03), die inti­men Mits­ing-Momente mit Lunik (’04), das roman­tis­che Lichter­meer bei Gen­tle­man (’05), der Pow­er­rock von Skin (’06), die Wahnsinns-Stimme von Kelis (’07), der funkige Groove des John But­ler Trios (’08), der Regen­tanz von Peter Fox (’09), das über­wälti­gende Sym­phoniekonz­ert von Archive (’10), die Visu­als von 2many DJs (’11)…

Ver­schmutzung. Dank eines durch­dacht­en Mül­lkonzepts bleibt erstaunlich wenig Abfall auf dem Gurten. Wer durch das Sam­meln von Pfand­bech­ern seine finanzielle Sit­u­a­tion etwas auf­bessern will, hat in den let­zten Jahren durch mit Stirn­lam­p­en und Funkgeräten top aus­gerüstete Pfand­samm­ler-Gangs jedoch harte Konkur­renz erhal­ten.

Wald­bühne. Die schön­ste Bühne des Fes­ti­vals. Durch den in diesem Jahr erst­mals auf hal­ber Höhe des steilen Hangs aufgestell­ten Box­en­turm sind die Konz­erte nun auch bis weit nach oben zu geniessen. Höhep­unkt in der Geschichte der Wald­bühne war wohl das diesjährige Konz­ert von 77 Bom­bay.

XX oder andere Bands, die ein­mal auf dem Gurten auftreten soll­ten. Manch­mal würde man sich bei der Pro­gram­mgestal­tung ein biss­chen mehr Risiko und Mut zum Exper­i­mentellen wün­schen. Vielle­icht hil­ft ein Blick auf das alljährlich fan­tastis­che Pro­gramm der benach­barten Bad Bonn Kil­bi.

Young Boys. Viele Bern­er ste­hen immer wieder vor dem Prob­lem: Saisonauf­takt oder Gurten­fes­ti­val. Um in diesem Jahr die Entschei­dung zu erle­ichtern, wurde das Spiel in der neuen Red Lounge im Tapis Rouge über­tra­gen. Warum aber nicht ein­mal eine Über­tra­gung auf den Grosslein­wän­den der Büh­nen während den Konz­ert­pausen? Solange die Bild­schirme nicht in Axpo-Screens umge­tauft wer­den…

Züri West. Die Gurten-Haus­band schlechthin. Es gibt wohl keine andere Band, die an ihren Konz­erten mehr Zuschauer anziehen kann; Wed­er Liam Gal­lagher noch Her­bert Grön­er­mey­er kön­nen den Bern­er Jungs in dieser Hin­sicht das Wass­er reichen. Wir freuen uns auf die 30. Aus­gabe des Fes­ti­vals in zwei Jahren – oder kehren Kuno Lauen­er & Co. bere­its im näch­sten Jahr zurück?

Foto: zVg.
ensuite, August 2011

 

Artikel online veröffentlicht: 12. Februar 2019