Von Peter J. Betts — Alle wissen, das Bruttoinlandprodukt entscheidet über Wert, Unwert, Sinn, Legitimität, ethische Qualität, ist Rechtfertigung jeglicher Tätigkeit aller. 5% aller Werktätigen in diesem Lande werden nach aktueller Einschätzung als «Kreative» bezeichnet, und sie generieren 4,2% (wenn ich mich nicht verhört habe) des Bruttoinlandproduktes, sie sind deshalb wichtig. Die Kontextsendung von DRS2 war am 17. Mai 2011 dem Thema «Kreativitätswirtschaft» gewidmet. Nicht nur Städte wie Zürich oder Basel haben offenbar die Witterung dieses neuen Beutetieres aufgenommen, zum Beispiel auch Hamburgs Public-Relations-Fachleute haben gemerkt, wie man mit einem weltbekannten Stararchitekten den Städtewettbewerb vermehrt zu seinen Gunsten entscheiden kann. (Sie wissen: für «Westside» hat Liebeskind alles, was unter «Form» subsumiert werden könnte, ausgereizt – für Funktionalität oder Nebengedanken wie Statik sind andere zuständig, im Pannenfall eine eloquente Pressesprecherin. Kennen Sie «Kleider machen Leute», eine der vielen lesenswerten Geschichten aus Seldwyla?) Neues Beutetier? In diesem Lande sind laut der Sendung von DRS2 offenbar erst in der Kulturbotschaft des Bundesrates und dem Kulturförderungsgesetz die Begriffe der Kreativwirtschaft erstmals angedacht worden. Seinerzeit musste sich Herr Blair irgendwie von Frau Thatcher abgrenzen, am eigenen Profil hobeln, um geglättet, ohne die unantastbaren Dogmen, dass etwa der freie Markt jedes gesellschaftliche Problem letztlich löse, anzukratzen, und als sozialbewusster Leithammel dem neoliberalen Paradies entgegen zu stürmen; bedrohliche Abgründe hin oder her: er belegte, wie die Exporte der Pop-Industrie dem Land monetär und prestigemässig mehr einbrachten als die Stahlindustrie; so werden denn zum Beispiel Musikwirtschaft und Buchmarkt in England nun zum wichtigen Zugang der Gesellschaft zu ihrer eigenen Zukunft erklärt. Im Spannungsfeld zwischen Kultur und Wirtschaft gedeihe und wachse im urbanen Raum die Schatzkammer von umsetzbaren Ideen: die Kreativitätswirtschaft. Kreativwirtschaft als Schnellstrasse zum grossen Geld? Herr Weckerle, Fachspezialist der Hochschule der Künste in Zürich für den Fachbereich Kreativität, zeigt auf, dass in unterschiedlichen Ländern die «Kreativwirtschaft» sehr unterschiedliche Gesichter habe, und unterschiedliche Merkmale stünden dafür: in England eben etwa Musikwirtschaft und Buchmarkt; in Wien gebe es auch staatliche Förderungsmittel; in der Schweiz seien die Kreativen auch in der Privatwirtschaft tätig; in den USA wachse rasch eine eigene Gesellschaftsschicht, die «Creative Class», ein Konglomerat von Anwälten, Film- und Musikschaffenden, Architekturbüros, Thinktanks, Softwarespezialisten – alle in unterschiedlichen, wechselnden Zusammensetzungen, und jeweils möglichst problembezogen vernetzt. Ob in England, Österreich, der Schweiz, den USA usw. – allen Kreativen seien ein paar grundsätzliche Eigenschaften und Lebensweisen gemeinsam: Risikobereitschaft, mögliche Misserfolge einzubeziehen; Flexibilität; Bereitschaft, Multifunktionalität zu nutzen; fluide Art von Zusammenarbeit mit flexiblen, unübersichtlichen Strukturen; den Blick aufs Kleine gerichtet, ohne Wachstumsdogmen als Erfolgsziele; veränderliche und immer problembezogene Denkansätze; mit Zeit investieren und arbeiten, anstatt Prozesse mit Krediten zu beschleunigen; der Wille, das noch nicht Gedachte zu denken. Zunehmend, so Herr Weckerle, funktioniere die Wirtschaft wie die Kunst und schaffe sich so Zukunftspotential. Ein amüsanter Zufall: In den Frühnachrichten von Radio DRS am 18. Mai fällt im Zusammenhang mit der Verhaftung von Herrn Strauss-Kahn die Einschätzung, dass als Reaktion des Vorfalles Frankreichs Sozialisten begännen, das <Undenkbare zu denken>. Das Undenkbare denken…: ob am Ende gar die Politik beginnt, wie die Kunst zu funktionieren? Die Classe politique, wenigstens in Krisensituationen, als Mitglied der «Creative Class»? Dass der Kunstmarkt mit seinen Rohstofflieferanten in den letzten Jahrzehnten auch im Bereich der Neuschöpfungen immer mehr wie die an «Luxus-Spitzenprodukten» orientierte Konsumwirtschaft funktioniert, ist offensichtlich: Wer wird zum Beispiel zur Teilnahme an die «Art» in Basel eingeladen? Welche Marketingstrategien bestimmen dort, was Kunst ist, zu welchen Preisen sie gehandelt wird? Wie lange bleiben die gehandelten Namen sexy? Wann verschwinden die Berühmtheiten in der Versenkung? Vielleicht hatte Yves Klein, als er seinen gut betuchten Fans für gutes Gold jeweils einen imaginären Quadratmeter kreative Fläche verkaufte, die heute langsam in Schwung geratende Denkweise vorgedacht: dass Schöpfungskraft unbezahlbar ist, der Gold-Obolus also lediglich einen symbolischen Beitrag darstellt und der wirkliche Wert darin besteht, an die eigene Kreativität zu glauben und diesen Glauben, auch gesellschaftsbezogen, möglichst sinnvoll zu nutzen. In der Kontextsendung wurde eine jüngere Frau – sie ist diplomierte Architektin und hat auch auf diesem Beruf gearbeitet – vorgestellt; sie hat eine formschöne selbstschliessende Tasche entwickelt, die, sobald sie getragen wird, allein durch die Schwerkraft auch gegenüber Taschendieben gesichert ist: viel vielschichtige Denkarbeit hat hier eine Synthese von Form und Funktion gefunden. Im DRS2-Vormittag zum Thema «Kreativwirtschaft» schien es den Programmverantwortlichen aber auch wichtig zu sein, klare Abgrenzungen zischen «Kulturschaffenden» und anderen Kreativen, zwischen Wirtschaft und Kultur zu finden und festzulegen. Warum eigentlich? Als vor fast vierzig Jahren die Stadt Bern im Rahmen ihrer Kulturpolitik begann, als Credo Kulturschaffende beim Lösen öffentlicher Aufgaben einzubeziehen, und dann mühsam Schritt für Schritt dieses Credo in die Realität – mit vielen Rückschritten – umzusetzen, war sie zweifellos unbewusst Vorreiterin des Begriffs «Kreativwirtschaft». Die Stadt begann damit, bei Projekten des Hoch- und Tiefbaus Künstlerinnen und Künstler den Architekturverantwortlichen zur Seite zu stellen. Es ging nicht mehr darum, künstlerischen Schmuck als Kosmetik für zweifelhafte Bauten zu verstehen, sondern darum, unterschiedliche Arten von Kreativität (jener etwa der Nutzerschaft, Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung, Denkmalpflege, Kunst) so zu verbinden, dass das Bauvorhaben – nicht nur aus prestigeträchtiger, technokratischer oder formaler Sicht – der jeweiligen Zeit entsprechend optimal realisiert würde, beispielweise unabhängig davon, ob Kunst sichtbar sei oder nur im Geist wirksam geworden war. Später wurden – in enger Zusammenarbeit mit Schuldirektion und aufgeschlossenen Lehrkräften – Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Sparten jeweils für eine längere Zeit in den Unterricht einzelner Klassen integriert. Zwei Überlegungen standen dahinter: Phantasie ist der Rohstoff von Kunstschaffenden, das musste im öffentlichen Interesse genutzt werden, und damit würden zugleich die Kunstschaffenden und die Gesellschaft gefördert. Die damals gültige Europaratsdefinition war Grundlage: «Kultur ist alles, was dem Individuum erlaubt, sich gegenüber der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber dem heimatlichen Erbgut zurechtzufinden, alles, was dazu führt, dass der Mensch seine Lage besser begreift, um sie unter Umständen verändern zu können.» Wirtschaft, Kunst, Politik können durchaus auch Kultur sein. Sind die scheinbar wünschenswerten Abgrenzungen zwischen Wirtschaft und Kultur nötig? Schön wenn die Wirtschaft, gar die Politik – aus welchen Gründen auch immer – vermehrt Ansätze zu Kreativität zeigen. Nicht das Bruttoinlandprodukt entscheidet über Wert, Unwert, Sinn, Legitimität, ethische Qualität, ist keineswegs Rechtfertigung jeglicher Tätigkeit aller.
Foto: zVg.
ensuite, August 2011