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Alpenmythos ohne Alpenromantik

Von Alexan­dra Port­mann — Nach dem Debakel um den Film «Sen­nen­tuntschi» zeigt das Bern­er Stadtthe­ater Han­sjörg Schnei­ders Stück unter der Regie des Basler Schaus­pieldirek­tors Elias Per­rig. Am 18. Dezem­ber 2009 war Pre­miere in den Vid­marhallen.

Auf der ver­dunkel­ten Bühne ste­ht eine kleine Hütte, durch deren Fen­ster drei Män­ner­gesichter erkennbar sind. Ein Betruf erklingt, zunächst leise und wider­willig, dann aber wird aus dem monot­o­nen Gemurmel ein kräftiger Gesang. Fast beschwörend wer­den die Namen von Heili­gen in die Leere gerufen, und Nebel strömt über den Büh­nen­bo­den. Diese mys­tis­che, unheim­liche Stim­mung überträgt sich auf den Zuschauer und bes­timmt den ganzen Abend. Die Alp ist rau, grob, kalt und voller Aber­glauben, ganz ohne Roman­tik und Idylle.

Dem Stück liegt eine im ganzen Alpen­raum bekan­nte Sage zugrunde. Diese erzählt von drei Sen­nen, die in betrunk­en­em Zus­tand aus ein­er Mist­ga­bel, ein­er Wein­flasche und einem alten Man­tel eine weib­liche Puppe basteln. Sie wird zur Pro­jek­tions­fläche ihrer sex­uellen Fan­tasien und soll den drei Män­nern die let­zten sechzehn ein­samen Tage auf der Alp «ver­süssen». Obschon der Senn Benedikt (Ste­fano Wenk) das ganze Treiben gottes­fürchtig mit Mis­strauen betra­chtet, ver­fällt auch er seinem prim­i­tiv­en Ver­lan­gen. Alle Drei steigern sich mass­los in das obszöne Spiel hinein, dem keine Gren­zen geset­zt zu sein scheinen. Das Spiel der drei Män­ner schwankt ständig zwis­chen üblen Scherzen, Macht­spie­len, gegen­seit­iger Mis­shand­lung sowie kurzen schein­bar fre­und­schaftlichen Augen­blick­en. Als der Tuntsch (Mil­va Stark), den sie auf Namen Maria getauft haben, aber eines Abends zum Leben erwacht, gerät das Ver­hält­nis der Män­ner zum ersten Mal in ein Gle­ichgewicht. Mani (Sebas­t­ian Edt­bauer) ver­ste­ht plöt­zlich Fridolins (Ernst C. Sigirst) provozierende Art, und Benedikt ver­greift sich sex­uell an Maria und nicht mehr an Mani. Doch dieses Gle­ichgewicht ist brüchig und währt nur kurz. Schnell lernt Maria, was ihr beige­bracht wird, und die Aus­ge­beutete wird selb­st zur Aus­beu­terin. Aus den «süssen» Tagen wer­den Tage des Schreck­ens, deren Ende alle drei Män­ner sehn­süchtig erwarten. Als sich der Aufen­thalt auf der Alp endlich zu Ende neigt, pla­nen sie, wie sie sich aus ihren Fän­gen befreien kön­nten. Doch längst hat Maria die Kon­trolle über­nom­men, und Per­rigs Insze­nierung lässt offen, ob sie ihr je entkom­men.

Han­sjörg Schnei­ders Skan­dal­stück wurde 1972 im Zürcher Schaus­piel­haus im Rah­men des «Nacht­stu­dios» in der Regie von Reto Bab­st uraufge­führt und danach an mehreren europäis­chen Büh­nen gespielt. Während die Kri­tik­er in Zürich fasziniert vom rauen Alpen­stück waren, löste es aber einen Skan­dal in den Prov­inzstädten aus. Lan­desweite Empörung ent­fachte «Sen­nen­tuntschi» schliesslich 1981 als Schnei­ders eigene Insze­nierung am Schweiz­er Fernse­hen gezeigt wurde.

Zwis­chen Hor­rorgeschichte und Volk­stück spiegelt «Sen­nen­tuntschi» gnaden­los die zwis­chen­men­schliche Kälte ein­er abgeschiede­nen Gemein­schaft, die über­all sein kön­nte. Die ein­fache Sprache des Stück­es ver­stärkt diesen Ein­druck der Leere und Ein­samkeit noch. Der Stoff des «Sen­nen­tuntschi» wird nicht in eine gegen­wär­tige Wirk­lichkeit pro­jiziert, son­dern ste­ht als Mythos zeit­los im Raum. In dem Stück wird eine derbe Gesellschaft dargestellt, wobei der Tuntsch diese Derb­heit nur ver­lagert. Das Böse, das durch den Betruf geban­nt wer­den soll, befind­et sich unter ihnen, denn es ist ihre eigene Schöp­fung.

Die Leis­tung des Bern­er Ensem­bles ist bemerkenswert. Die erschreck­end schnellen Wech­sel zwis­chen Spass und Ernst wer­den her­vor­ra­gend gespielt. Indem der Innen­raum der Hütte nur durch die Fen­ster sicht­bar ist und die Umge­bung der Alp lediglich durch Geräusche ver­mit­telt wird, set­zt Beate Fass­nacht mit ihrem schlicht­en Büh­nen­bild den Haup­takzent auf den zwis­chen­men­schlichen Kon­flikt. Alles, was von der Geschichte zu sehen ist, find­et konzen­tri­ert auf engem Raum in der Hütte hin­ter geschlosse­nen Fen­stern statt. Dadurch ist der Zuschauer auf seine eigene Vorstel­lungskraft angewiesen, denn je nach Blick­winkel auf die Hütte, sieht man mehr oder weniger vom Innen­raum. Fokussiert auf die Fen­ster befind­et er sich in ein­er voyeuris­tis­chen Posi­tion und wird Zeuge der bru­tal­en Hand­lung. Elias Per­rig und sein Ensem­ble spie­len gekon­nt das Ver­hält­nis von Sicht­barem und Ver­bor­gen­em aus, wom­it die Inten­sität des Stück­es entste­ht. Was nicht sicht­bar ist, wird hinzugedacht und ist meist noch erschreck­ender als das Gezeigte.

Foto: Anette Boutel­li­er
ensuite, Jan­u­ar 2010

Artikel online veröffentlicht: 30. September 2018