Von Corinna Möller — Anny Fröhlich geht es gut. Und zwar sowohl am Abend als auch am Morgen. Am Abend und am Morgen kommt die spitalexterne Hilfe und Pflege von Spitex auch zu Monique Hofmann, die aufgrund Multipler Sklerose zwar nicht mehr ganz alleine zurecht kommt, sich aber auf keinen Fall beklagen möchte. Elisabeth Willen kann kaum glauben, dass sie schon 94 Jahre auf der Welt ist und erlaubt sich daher ab und zu auch mal, das Essen direkt aus der Pfanne zu essen. Und für Silvan Jeker symbolisiert das Altersheim das Abstellgleis, auf das er trotz sieben Jahren Langeweile und diagnostiziertem Mangel an Initiative lieber verzichten möchte. Die Angst vor Fremdbestimmung sitzt bei allen vier ProtagonistInnen ebenso tief wie die Sorge um den Verlust des Zuhauses, vielleicht bedeutet beides auch ein- und dasselbe. Dennoch bestehen sie alle darauf, dass es ihnen gut geht, und deshalb kann und darf es einem trotz der Ernsthaftigkeit des Themas auch beim Zuschauen gut gehen.
Begleitet wird neben dem Alltag der Senioren auch das Arbeitsleben des Pflegepersonals, das sich trotz Zeitmangels und Einsparungen darum bemüht, den Individuen gerecht zu werden. Bei den Besuchen werden kleine Unterhaltungen, eben Smalltalk geführt, und es wird sich den Diskussionen gestellt, die aufgrund der sympathischen Sturheit der Betagten nicht selten unausweichlich sind. Als Zuschauer kann man sich trotz Wissen um die Arbeitsbedingungen im Pflegesektor und Verständnis für die Fachkräfte das eine oder andere Mal vielleicht doch nicht dagegen wehren, Ärger über die Bevormundung und die Eintönigkeit im Ablauf zu empfinden. Auch, dass die Dusche schon mal auf den nächsten Tag verschoben werden muss, oder dass jemand den ganzen Tag vergeblich auf seine Unterstützung wartet, bis der Fehler kurz vor Dienstschluss aufgrund eines verzweifelten Anrufs bemerkt wird, kann Unwohlsein hervorrufen. Davor, gewisse Handlungsanweisungen des Pflegepersonals mit Frau Fröhlichs Worten als «Affentheater» zu bezeichnen, sollte man sich dann aber wohl doch hüten. Vor allem, wenn sich diese früher oder später doch als Notwendigkeit herausstellen. Die recht harmlose und amüsante Beschönigung der Realität, die zu einem zufriedenen Dasein bzw. zum Willen zur Zufriedenheit im hohen Alter ein bisschen dazuzugehören scheint, schützt letztlich nämlich niemanden vor der eigentlichen Realität, von heute auf morgen und dann für immer ins Altersheim kommen zu können. Sich den Alltag kurz vor der letzten Station noch so autonom wie möglich gestalten zu können, scheint daher besonders wichtig, auch wenn die Autonomie vielleicht eher eine gefühlte ist. So fährt Monique Hofmann mit ihrem elektrischen Rollstuhl zur Post und zum Kaffeetrinken, wenn sie nicht gerade von ihrem Lieblingsschlagersänger und einem vielleicht letzten Konzertbesuch träumt. Silvan Jeker, der «immer etwas Nachdenkzeit» braucht, ehe er den Wohnzimmertisch aufräumen kann, und zwei Monate, bevor er sich für einen Frisörbesuch vor die Haustür begibt, lebt eher für das Rauchen und Fernsehen. Spätestens nach einigen Sequenzen aus Herrn Jekers Leben beginnt man sich dann doch zu fragen, ob das Leben im Altersheim eigentlich in jedem Fall und zwangsläufig schlechter, unfreier sein muss als die Zeit im eigenen Heim, in dem die meisten Tage doch alleine verbracht werden, und wo die Einsamkeit häufig nur durch die Besuche von Spitex für einen kurzen Moment durch- bzw. unterbrochen wird.
Frank Matters Dokumentarfilm «Von heute auf morgen», der am 3. Oktober startet, gelingt es, die Thematik des Lebens im Alter aus einer nicht nur dramatischen und beängstigenden Perspektive zu präsentieren, und dabei gleichzeitig die problematischen und durchaus auch traurigen Facetten des Altwerdens nicht unbeleuchtet zu lassen. Dies gelingt dem Film neben einigen witzig eingefangenen und aussagekräftigen Bildern vor allem durch die Nähe zu den porträtierten Personen. Die beiläufigsten Äusserungen, nicht selten zynisch und sehr humorvoll, sind in diesem Film die stärksten, und am besten dazu in der Lage, den ZuschauerInnen die Eigenheiten der Charaktere und ihre Sichtweise auf ihr Leben nahe zu bringen: «So schön hab ich‘s mir gar nicht vorgestellt!».
Dokumentarfilm, Regie: Frank Matter
Mit: Anny Fröhlich, Monique Hofmann, Silvan Jeker, Elisabeth Willen
Produktion: Frank Matter, soap factory GmbH
Schweiz 2013 // 95’ // DCP // Farbe // Schweizerdeutsch
Foto: zVg.
ensuite, September 2013