Von Lukas Vogelsang – Dieser Artikel wurde am 7. Mai als Newsletter von ensuite versendet und hat ein enormes Echo ausgelöst.
Bis wir 50 Jahre alt sind, wandern wir den Weg hoch, mit einem Ziel vor den Augen: dem Gipfel. Hinter uns die Vergangenheit, die uns hierhergebracht hat. Bis dahin ist der Tod ein Unfall, ein Zufall, ein Element des Lebens, welches wir nicht zulassen – weit weg. Doch ab dem 50. Lebensjahr fängt es an, dass die KollegInnen schwer erkranken, dass Elternteile sterben. Die Gesundheit wird für uns selbst ein Thema – die ersten «Bräschteli» wollen nicht mehr einfach verschwinden.
Unser, mein Vater ist am 30. April an einer heftigen und gnadenlosen Krebserkrankung gestorben. Er hatte von Februar 2008 bis Dezember 2017 im ensuite eine Seniorenkolumne geschrieben. Wir wussten schon eine Weile, dass es nicht mehr lange dauern würde, und der Tod zeigte sich barmherziger als der Krebs und erlöste ihn schnell und ohne grosse Komplikationen im Schlaf. Und so traurig es ist: Wir hätten es ihm nicht schöner wünschen können. Das klingt grotesk, aber zuzusehen, wie ein Mensch innert einem halben Jahr von dieser Krankheit zerfressen wird, lässt keine bessere Option zu.
Und damit folgte mein Moment, an dem ich den eigentlichen Gipfel von meinem Berg erreicht habe. Ich sehe jetzt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch meine Zukunft. Ab hier sehen wir einen neuen Horizont hinter diesem Berg. Selbstverständlich ist das noch lange nicht das Ende – im Gegenteil: Der neue Horizont zeigt neue Ziele, viel mehr noch, als wir uns zuvor vorstellen konnten. Ich habe selbst immer ein Himalaja-Gebirge vor meinem inneren Auge, eine ziemliche Endlosschlaufe. In diesem Moment wird mir aber bewusst, was man noch alles erreichen kann in einem Leben und was nicht. Alles wird nicht mehr möglich sein. Und jetzt folgt erst mal ein erster Abstieg.
Das klingt schrecklich dramatisch. Doch der Deal war von Anfang an klar: Wir kommen auf die Welt, wir werden auch wieder gehen. Dazwischen ist Zeit, um zu leben. Diese Zeit ist wild und illusorisch – wir stellen uns vor, was wir sind, sein wollen, und bauen unsere Wunschbilder auf. Das machen alle individuell und für sich. Wir schaffen durch Definitionen Gesellschaften, Moral, Sprachen … Kultur eben. Es gibt nur eine Konstante, die für alle gleich ist: Wir sind nicht allein hier, es gibt viele andere Menschen um uns herum, denen es gleich ergeht.
Damit erhalten die Beziehungen zu anderen Menschen plötzlich neue Bedeutungen. Im Leben geht es um Beziehungen. Wir mit den anderen, die anderen mit mir, ich mit dir. Das ist in der Kulturdefinition die höchste Stufe des Begriffs. Es gibt keine «Kultur» (zumindest bisher) mit Aliens – also sind die Beziehungen mit Menschen, unseren Mitmenschen, «die Kultur».
Und darum bin ich zum Schluss gekommen, dass ich die zweite Hälfte meines Lebens nur noch mit Menschen verbringen möchte, die mich ebenso als Mensch wahrnehmen. Täglich werde ich von Maschinen (KI) und mit anonymen Newslettern, unüberlegten Anfragen bombardiert, wo ich nur als Funktion angesprochen werde. Wer bin ich denn? Wer interessiert sich für die Menschen hinter «ensuite – Zeitschrift zu Kultur & Kunst»? Wer kann mich als normalen Menschen sehen und nicht nur als Journalisten? Wer kontaktiert mich, weil ICH es bin und nicht weil ich ein Tor zur Öffentlichkeitsarbeit repräsentiere? Wir sind nicht wichtig, nicht wichtiger als andere, aber wir sind Menschen.
Liebe LeserInnen, Sie müssen sich das so vorstellen: Täglich fragen mich Institutionen, Agenturen, KünstlerInnen, AutorInnen, MusikerInnen, ob ich ihre Arbeit in der Öffentlichkeit redaktionell vorstellen könnte, sie als Menschen bekannt machen, auf sie aufmerksam machen könne. Gratis natürlich – weil man davon ausgeht, dass dies ein Menschenrecht sei. Fast alle Anfragen kommen von Menschen, die für diese Anfragen bezahlt werden oder die sich später, wenn sie renommiert sind, nicht an uns erinnern werden. Wir in der Redaktion erhalten nichts. Keine Anzeigen, keinen Lohn, keine Subventionen, keine Preise, keine Auszeichnungen, keine Hilfe. Millionenschwere Unternehmen fragen uns genau gleich an wie EinzelkünstlerInnen. Es fragt sich niemand, wie es uns geht, wie wir überleben. Im Verhältnis verstehen nur sehr wenige Menschen, wer wir sind und was wir tun. Wer es versteht, arbeitet MIT uns zusammen. Ich danke hier gleich allen AbonnentInnen! Auch haben wir mit dem Verlag in all den Jahren grossartige PartnerInnen getroffen und wunderbare Zusammenarbeiten hinbekommen: auf Augenhöhe. Gemeinsam. Miteinander. Ohne diese Menschen würde es uns gar nicht geben. Ohne diese Menschen möchte ich meine Arbeit nicht tun.
Es sind Menschen, die erst fragen, wie es einem geht, was man tut, und die sich auch wirklich dafür interessieren. Es sind jene Menschen, die einen fragen, ob man was brauche, und es sind jene Menschen, die ich um Hilfe anfrage, wenn ich selbst in Not bin. Dieses Miteinander zeigt eine enorme Lebensqualität auf. Es ist die höchste gelebte Kultur, die wir als Menschen erreichen können. Und es ist das Leben, das ich mir immer gewünscht habe.
Auch wenn das alles etwas pathetisch klingt, es lohnt sich, darüber nachzudenken. Wir können nach 21 Jahren noch immer nicht alle Schulden abbezahlen und haben noch den Covid-Kredit und anderen Darlehensschulden, die ich gerne los wäre. Das wäre die erste konkrete Hilfe, die ich bräuchte, denn ich bin müde geworden, mich laufend für meine Arbeit, für meine Existenz rechtfertigen und betteln zu müssen. Wir arbeiten hier viel und gut und leisten einen wichtigen Anteil an die Gesellschaft und werden dafür von ihr nicht getragen. Das geht anderen Menschen genauso – insofern geht es nicht nur um mich/uns hier! Deswegen: Wir sollten unser Leben mit Menschen verbringen. Kultur leben! Miteinander. Füreinander. Fragen Sie sich, wie Sie Ihrem Gegenüber das Leben schöner und leichter machen könnten!
Irgendwann ist es vorbei.
(Foto: «Herbstabend» von Willy Vogelsang, 2018)