Von Peter J. Betts — «Am Horizont stand ein Riese von so ungeheurer Grösse, dass selbst das himmelhohe Gebirge ‹Die Krone der Welt› neben ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkt hätte…» schreibt Michael Ende – viel, viel zu früh verstorben — in «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» (1960). Eine sehr vielschichtige und (vor allem) auch heute lehrreiche Episode. Der Riese war Herr Tur Tur, der Scheinriese. Auf grosse Distanz betrachtet, wirkte er so ungeheuer gross, dass alle, obwohl Herr Tur (Vorname) Tur (Nachname) nur ein sehr dünnes, freundliches Stimmchen besass, vor Schrecken und Angst davonliefen. Ganz vereinsamt und traurig zog er sich in die Wüste in eine kleine Oase zurück, bis er endlich mit Lukas dem Lokomotivführer und Jim Knopf ins Gespräch kommen konnte. Ein Scheinriese sieht bekanntlich auf grosse Distanz ungeheuer gross aus, wagt man sich in seine Nähe, sieht man, dass er eine ganz normale, eher kleine Körpergrösse hat. Natürlich hatten, im Gegensatz zu uns jetzt, Jim und Lukas diesen Sachverhalt nicht gekannt, haben dennoch die Gefahr auf sich genommen und sich genähert… Im Fortsetzungsband, «Jim Knopf und die Wilde 13», kann man lesen, wie es Herr Tur Tur auf Lummerland zu einer höchst wichtigen Stellung brachte. Lummerland ist eine winzige Insel, eine Art Paradies auf Erden, natürlich auch mit vielen Nachteilen behaftet – etwas Reales halt: Die Insel ist felsig. Sie ist auf keiner Seekarte verzeichnet, so dass viele Steuermänner sie bei Nacht übersahen, und die See um die Insel herum ist rau. Lummerland war auch die Heimat von Lukas dem Lokomotivführer und von Jim Knopf – so klein, dass es die beiden abenteuerlich gesinnten Wissensdurstigen in die Ferne auf eine ereignisreiche Weltreise zog. Der Enge entweichen, kann ein Bedürfnis sein. Auf Lummerland amtete der von beiden mitgenommene Herr Tur Tur dann schliesslich als Leuchtturm. Den Leuchtturm erkennen und vor Schrecken und Angst einen grossen Bogen um die gefährliche Felsenwarze herum machen, war für Steuerleute eins. Im Meer um Lummerland herum gab es dann viel weniger Ertrunkene. Wie man sieht: Leuchttürme machen durchaus Sinn. Am Ostermontag strahlte Radio DRS2 eine Kontextsendung über die Osterinseln aus. Die Osterinsel, Rapa Nui, wurde am Ostersonntag 1722 vom Holländer Jakob Roggewen (wohl nicht ganz ohne Hilfe der Besatzung seines Schiffes?) entdeckt, und auch diese Entdeckung brachte der damaligen Einwohnerschaft wenig Glück, im Gegenteil. Die Fläche der Insel entspräche einem Quadrat von etwas mehr als elf Kilometern Seitenlänge – vielleicht also ein bisschen grösser als Lummerland, aber irgendwie durchaus vergleichbar. Heute gehört die Osterinsel zu Chile, sie wird vom – Mutterland durch eine Schafpopulation und eine einträgliche Tourismusindustrie genutzt. Die Insel ist berühmt durch ihre einst hochstehende Kultur: Durch grosse, für «primitive Völker» als Urheberschaft ohne unser Hightech-Instrumentarium von unserer Denkweise her fast undenkbar riesige Skulpturen aus Tuff und eine Hieroglyphenschrift (durch den Ethnologen Thomas S. Barthel zum Teil entziffert). Die riesigen Skulpturen, durchaus eine Art Leuchttürme, führten zu Ruin und Untergang der Urbevölkerung, lange bevor bei uns die Zivilisation flächendeckend ausbrach. Der Grund war ein uns nicht ganz fremder Glaube ans unbegrenzte Wachstum. Grosse Skulpturen riefen nach noch grösseren. Eine Familie, eine Sippe, eine Siedlungseinheit trumpfte gegen die benachbarte jeweils durch grossartigere Skulpturen, sprich «Leuchttürme», auf. Die gesamte Bevölkerung war damit beschäftigt, ununterbrochen für ihre jeweiligen Macht- und Würdeträger noch grössere Skulpturen zu bauen. Rivalisierende Siedlungen stürzten in mühsamster Arbeit — die Dinger sind ungeheuer schwer und Krane gab es keine, Dynamit auch nicht — die Skulpturen der anderen um. Die Bevölkerung vernachlässigte den Anbau von Nahrungsmitteln und den Fischfang. Der Wald wurde aus-genutzt, selbstverständlich nicht gepflegt (Ein Verhalten, das sich etwa beim Betrachten unserer heutigen Forstwirtschaft — nur für Nichtfachleute? – leicht nachvollziehen lässt: Mit Mikroorganismen lassen sich keine Schnitzelheizungen füttern; Carte blanche für Schwerstfahrzeuge nach dem Motto: «Mein Auto fährt auch ohne Wald.»). Unglaubliche Mengen von Bäumen mussten gefällt werden, um die Steine zu transportieren und aufzurichten. Wäre die Insel rund, hätte sie einen Radius von etwa sechs Kilometern. Als der letzte Baum gefällt worden war, liessen sich auch keine Einbäume mehr für den immer bitterer nötig gewordenen Fischfang bauen. Hunger. Streit. Am Schluss frassen sie einander gegenseitig auf. Untergang der Kultur und der Bevölkerung. Ökologischer Selbstmord. Ein Trauerspiel, über das bei der Entdeckung durch die Holländer, 1722, der Vorhang schon längst gefallen war. Sichtbar blieben die Leuchttürme. Ein Festessen für Archäologie und Ethnologie. Auf der Frontseite der Ausgabe vom 9. April titelt «Der Bund»: «Bern entdeckt die Kultur.» Nein, nein, es wird nicht die Frage aufgeworfen, ob Bern ein Kulturprodukt oder ein Naturereignis sei. Wäre Bern ein Kulturprodukt, könnte der «Bund»-Titel auf Bemühungen um Selbsterkenntnis hinweisen. Aber kein Gedanke wird im Artikel an die Auseinandersetzung der BernerInnen mit sich selbst verschwendet. Es geht, wie eine Journalistin im Kommentar zum Hauptartikel titelt, um folgenden Sachverhalt: «Ehrgeizige Ziele haben ihren Preis.» In der Tat. Denkt man an das Schicksal der Urbevölkerung von Rapa Nui. Es geht im Artikel aber um das kulturpolitische Strategiepapier des Kantons Bern. Erziehungsdirektor Bernhard Pulver wird eingangs so zitiert: «Kultur ist Lebensqualität, gibt Antwort auf Sinnfragen, bietet Distanz zu Alltäglichem und verbreitet Lebensfreude.» Dem könnte kaum widersprochen werden. Einige zusätzliche Aspekte wären vielleicht anzufügen. Zum Beispiel, dass der Stand der Kultur einer Bevölkerung vom Stand ihres schöpferischen Potentials abhängt. Dass breite Auseinandersetzung mit aktuellem professionellem Kulturschaffen aller Sparten in der Regel zu den eingangs zitierten Antworten zu Sinnfragen führt (würde aber deshalb heute, also bevor die Spekulation im Kunstmarkt «den Wert definiert», der Staat beispielsweise Paul Klees Schaffen unterstützen und seinen Wunsch nach der Schweizerbürgerschaft mit Handkuss erfüllen?). Des Erziehungsdirektors Worte sind also eine gute Ausgangslage für eine fruchtbare Diskussion. Dann – wie es sich für unser Hier und Jetzt gehört – erfährt man beim Lesen, dass es den ParlamentarierInnen nicht um kulturpolitische Inhalte geht, sondern um das Verteilen von vorhandenen Geldern. Wer erhält die grössten Bissen? In die erste Kategorie der Empfängerinnen gehören «herausragende bernische Kulturinstitutionen mit nationaler Ausrichtung». Die GrossrätInnen streiten sich dann darüber, ob die drei erwähnten «Flaggschiffe» (Zentrum Paul Klee, Kunstmuseum Bern, Freilichtmuseum Ballenberg) genügten. Dann beteuert Frau Grossrätin Bommeli, dass die drei Institutionen HERVORGEHOBEN werden sollten, «damit sie als Leuchttürme der Berner Kultur strahlten». Und das Ganze kurbelt die Wirtschaft an und wird zum Magneten für den Tourismus. Michael Ende hat anschaulich den Zweck von Leuchttürmen geschildert («Bleibt weg!»); fast zwanzig Jahre später schrieb er die «Endlose Geschichte». Für die Ureinwohnerschaft der Osterinsel war die Geschichte alles andere als endlos. Zu viele Leuchttürme, keine Förderung der Schöpfungskraft und tödliche Erschöpfung als Folge.
ensuite, Juni/Juli 2009