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AUAWIRLEBEN – Ein Rückblick auf Theaterhighlights

Von Fabi­enne Naegeli — De Warme Winkel’s Krisen-Show Müde und abgekämpft ste­hen Mara van Vli­j­men und Vin­cent Rietveld von De Warme Winkel (dt. Der heiße Laden) in einem mit weis­sen Lein­tüch­ern aus­gek­lei­de­ten, leeren Büh­nen­raum, und müssen dem Pub­likum geste­hen: Heute Abend gibt es kein Stück zu sehen! Die geplante Pro­duk­tion über Bach­manns und Celans Liebes­briefe mussten sie auf­grund finanzieller und zeitlich­er Prob­leme lei­der aufgeben. Ihre let­zte Pro­duk­tion habe zu viel Geld ver­schlun­gen, die unter­schiedlichen Antrags­for­mate für Sub­ven­tio­nen hät­ten zu ver­späteten Proben geführt, nicht schlafen wol­lende Kinder und Hüft­prob­leme ihnen den let­zten Nerv ger­aubt, so dass sie, gedanklich leer und mit einem unmen­schlichen Druck, an bish­erige Erfolge anzuschließen zu proben ver­sucht hät­ten, was gescheit­ert sei. Ganz nach dem Mot­to «Eine Krise ist immer auch eine Möglichkeit» zeigen die bei­den Per­former, wie man aus nichts etwas macht. Sie erzählen, spie­len, disku­tieren und imag­inieren Szenen und kün­st­lerische Darstel­lungsver­suche der Krise. Die Ideen reichen dabei von «Michelle Hun­zik­er erk­lärt in Form ein­er Quizshow den Begriff Krise», über das Ken­nen­ler­nen eines realen Bankers als men­schlich­es Wesen, inklu­sive einem Musi­cal­chor aus Arbeit­slosen, die man zusät­zlich über einen Livestream in ihrem All­t­ag beobacht­en kann. Andere Möglichkeit­en sind ein Mit­te­lal­ter­stück zum The­ma «Tauschhan­del im Nation­althe­ater­stil», oder die Krise als riesiger Ball, der über einen kleinen Mann rollt. Die absur­den, sym­bol­isch aufge­lade­nen, lusti­gen Gedanken sprudeln aus den Per­formern her­aus, die sich gegen­seit­ig immer wieder mit Erzäh­lideen unter­brechen und ihre Lebendigkeit zurück­gewin­nen, bis zu «Tab­u­la Rasa!»- und «Delete!»-Rufen Scott McKen­zies Hip­pie-Song «San Fran­cis­co» erklingt und im roman­tis­chen Dis­cokugel-Ster­nen­licht weiße Blät­ter durch die Luft flat­tern.

Stalk­ing gegen das Allein­sein «We’re born alone, we live alone, we die alone. Only through our love and friend­ship can we cre­ate the illu­sion for the moment that we’re not alone.» Orson Welles Zitat und den Rat seines pflegebedürfti­gen Vaters auf die Frage, was er mit seinem Leben tun soll, hat sich der Per­former Kim Noble zu Herzen genom­men. Er ver­sucht, anderen Leuten zu helfen, Wün­sche zu erfüllen, und befriedigt seine Sehn­sucht nach Nähe und Intim­ität. In seinen Aktio­nen gegen die Ein­samkeit scheut er vor nichts zurück, und nutzt die Bedürfnisse ander­er aus zur Erfül­lung sein­er Obses­sion. Er bohrt ein Loch in die Wand, um seinen Nach­barn näher zu kom­men und sie beim Sex zu belauschen. Er beobachtet den Super­mark­tkassier­er Kei­th, erstellt einen Film für ihn, kauft diesel­ben Pro­duk­te, schenkt ihm Awards. Er putzt nachts parkierte Autos, ruft Tele­fon­num­mern an die an Wän­den öffentlich­er Toi­let­ten ste­hen, bewirbt sich bei ein­er Bau­mark­tkette, da viele Beziehun­gen am Arbeit­splatz entste­hen, und geht trotz Absage als Mitar­beit­er verklei­det hin. Er erfind­et ein Face­book-Pro­fil namens Sarah, auf dem er Fotos Fremder postet. Darüber tritt er in Kon­takt mit unwis­senden Män­nern, denen er Akt­bilder seines mod­el­lierten Kör­pers schickt, die er als Frau verklei­det datet, und mit denen er mit Hil­fe eines Stim­mverz­er­rers Tele­fon­sex hat. Auf der Bühne zeigt Noble Videos, Chat-Pro­tokolle, Sta­tis­tiken, Klei­dungsstücke, und spielt aufgeze­ich­nete Tele­fonge­spräche pri­vater Momente ein. Das ist ein­er­seits beängsti­gend und bek­lem­mend, ander­er­seits sehr berührend, und lässt die Frage nach der Authen­tiz­ität seines Tuns aufkom­men.

«Ich bin jung. Für mich geht es mor­gen los.» Vier junge Frauen im Schlab­ber­pullover-Punk­te­rock-Look mit Nerd-Brillen per­for­men im Chor auf ein­er leeren Bühne Sibylle Bergs satirische Zeit­di­ag­nose der Weib­lichkeit «Es sagt mir nichts, das soge­nan­nte Draussen». Früher hat Min­na noch Jungs ver­prügelt, heute lebt sie in ein­er WG, vertreibt im Netz selb­s­thergestellte Poten­zpillen und sucht nach ihrem Platz in der Welt, zu der man sich ja irgend­wie – vor allem poli­tisch kor­rekt – ver­hal­ten muss, was bei den fehlen­den Rol­len­vor­bildern nicht ein­fach ist. In den All­t­ag der Pro­tag­o­nistin schal­ten sich über SMS, Skype und Tele­fon ihre Fre­undin Lina, die süsse Halb­schwest­er Gem­ma und ihre Mut­ter ein. Die vier Darstel­lerin­nen, welche Bergs musikalis­che Textfläche im Chor sprechen, vere­inzeln in solchen Momenten kurzzeit­ig, find­en aber immer wieder zum Kollek­tiv zusam­men. Lina dreht durch. Sie ist süchtig nach Liebeskum­mer. Mar­ket­ingstu­dentin Gem­ma fol­gt dem Zum­ba-Fit­ness­wahn, und Min­nas Mut­ter wün­scht sich, dass ihre Tochter endlich einen Leben­s­plan erstellt. Refrainar­tig wird Vater Paul, das Opfer im Keller, ange­sprochen. Mode, Kör­perkult, Lifestyle, Bloggen, Shop­ping, Selb­stop­ti­mierung, Par­ty machen, sex­uell tun, Aussergewöhn­lich sein und trotz­dem zur richti­gen Gruppe gehören sind The­men­bere­iche, durch die Bergs Text vir­tu­os surft. In gebück­ter Hal­tung, tanzend, gegen die Wand ren­nend, wieder auf­ste­hend ergiesst sich ein wüten­der Redeschwall mit iro­nis­chen a cap­pel­la-Gesang­sein­la­gen wie Goril­laz’ «Clint Eastwood»-Refrain ins Pub­likum, der den Zus­tand der Unentschlossen­heit und der Möglichkeit­en ein­er Gen­er­a­tion in der Beschäf­ti­gung mit dem Pro­jekt «Ich» energievoll, mit viel Witz und Groove artikuliert.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2014

 

Artikel online veröffentlicht: 6. April 2019