Von Jean-Luc Froidevaux - Er habe als Kind jeden Flugzeugtyp, jede Rakete und jedes Kaliber allein vom Geräusch her benennen können und genau herausgehört, ob von ihm weg- oder auf ihn zugefeuert wurde, erinnert sich ein Musiker der Bürgerkriegsgeneration. «Machte es ziiisssssch, so, flog die Bombe genau auf dein Haus zu und du musstest schleunigst an einen sicheren Ort.» Schult Krieg das Gehör? Mazen Kerbaj, Pionier der frei improvisierten Musik in Beirut, presst Maschinengewehrsalven aus seiner Trompete, lässt sie rattern wie Rotoren eines Hubschraubers: «Wahrscheinlich imitiere ich die Geräusche meiner Kindheit. Ich habe eine spezielle Beziehung zu Stille. Stille ist zwar ein Synonym für Frieden, war aber immer auch bedrohlich: Ein Warten auf den nächsten Bombenhagel.» «brt vrt zrt krt t» oder «Tagadagadaga» heissen seine Tracks. Er gründete das Label «Al Maslakh» (das Schlachthaus) «to publish the unpublishable in the lebanese artistic scene».
Die libanesische Republik war seit ihrer Schaffung durch die Kolonialmacht Frankreich ein multiethnischer und polyreligiöser Staat mit einer labilen christlichen Übermacht. Als diese schwand, weil die sozial schlechter gestellten Schiiten mehr Kinder hatten und Palästinenser aus Jordanien flüchteten, entflammte 1975 der Bürgerkrieg, der bis 1990 andauerte.
Die in diesen langen Kriegsjahren Grossgewordenen erkennt man an ihrem Sarkasmus, wie Mazen Kerbaj: als die israelische Armee im Juli 2006 ihre Drohung wahrmacht, das Land zehn Jahre zurückzubomben, spielt er auf seinem Balkon in Beirut ein Duett mit den Raketen. «Starry Nights». Zu hören sind seine luftige Trompete und ein Grollen im Hintergrund. Laute Bombeneinschläge folgen, sie lösen die Alarmanlagen der geparkten Autos in den Strassen aus. Hunde bellen. Und zwischendurch diese bedrohliche Stille.
Der 33-Tage-Krieg Anchcar und Warschawski zeigen auf, wie die Hisbollah (Partei Gottes) nach Ende des Bürgerkriegs in den 90er-Jahren stärker wird: gegen die israelische Besetzung und dank der Finanzierung durch den Iran. Die USA konnten die UN-Resolution 1559 durchsetzen, die den Libanon unter Einmischung in seine Souveränität von der syrischen Armee «befreien» und die Hisbollah entwaffnen sollte. Nach der Ermordung des Premiers Rafik Hariri im Februar 2005 führen Massendemonstrationen sowohl der Schiiten wie auch der Drusen und Alewiten zu einem Abzug der syrischen Armee. Die Hisbollah wird aber nicht entwaffnet. Schon bald bietet sich den USA und Israel die Gelegenheit, einen Plan umzusetzen, der schon längere Zeit bestand, sich aber ohne äusseren Anlass vor den Augen der Weltgemeinschaft nicht durchführen liess: Am 12. Juli 2006 entführt die Hisbollah zwei israelische Soldaten, um sie mit Israel gegen Gefangene auszutauschen. Entgegen der Erwartung des pragmatischen Hisbollah-Führers Nasrallah verhandelt Israel aber nicht, sondern nimmt den nördlichen Nachbarn unter Dauerbeschuss. Ein Keil soll zwischen die Hisbollah und die libanesische Bevölkerung getrieben werden. Das libanesische Volk wendet sich aber nicht von der Hisbollah ab, die es über lange Jahre unterstützt hat. Zudem machen einige Tausend Hisbollah-Kämpfer dem mächtigen Israel das Leben schwer und bombardieren ihrerseits dessen Norden bis noch zum Waffenstillstand am 14. August 2006. Ein Waffenstillstand, den sich Israel und die USA bei der UNO holten, um nicht das Gesicht zu verlieren, nachdem sie diesen anfänglich blockierten. Millionen von Libanesen wurden vertrieben und Hunderte von Zivilisten getötet. Da auch jetzt die Hisbollah dem Volk wieder als erste zur Seite steht, gewinnt sie sogar an Prestige und Anhänger.
Und noch einmal von vorne Das kulturelle Leben der einstmals Paris des Nahen Ostens genannten zwei Millionen-Metropole ist nach dem langsamen Wiedererblühen fünfzehn Jahre nach Ende des Bürgerkriegs erneut abgestorben. Täglich fällt für vier Stunden der Strom aus, viele Gebäude im Süden sind zerbombt, trotzdem werden prestigeträchtige Bauprojekte in verschont gebliebenen Bonzenvierteln bevorzugt. «Ich empfinde all die Reden der Politiker und die Verschwörungstheorien der Leute einfach nur als Krach», resümiert eine Jazzpianistin. Von Kulturförderung konnten libanesische Musiker schon vorher nur träumen, vielleicht arbeiten daher viele in mehreren Disziplinen, zeichnen noch wie Mazen, oder machen Filme oder Theater. Theaterstücke müssen manchmal zwar mehrere Male eingereicht werden, bis die Behörde eine Aufführung bewilligt. Viele Kunstschaffende leben inzwischen im Exil, ausländische Künstler bleiben erneut weg. Der Bassist und Klarinettist Paed Conca ist eine Ausnahme; der Berner wurde ans Irtijal-Festival für experimentelle Musik eingeladen, erlebte den Ausnahmezustand und revanchiert sich jetzt zum zweiten Mal mit einem Festival in der Schweiz. Er habe feststellen können, dass es in Beirut ein breiteres Publikum für improvisierte Musik gebe als hier. Vielleicht weil das Spontane und Chaotische eher dem dortigen Lebenszustand entspricht? Zudem entstehe mehr im Kollektiv, weniger unter dominanten Einzelkämpfern
Mazen Kerbaj: www.kerbaj.com
Paed Conca: www.paed.ch
Bild: © Mazen Kerbaj aus Beyrouth, juillet — août 2006
ensuite, Februar 2008