Von Peter J. Betts — Auf den ersten Blick ist es zum Schreien komisch; auf den zweiten erschliesst sich verstehendes Schmunzeln; auf den dritten klickt – vielleicht – der Denkapparat an. Vielleicht denkt mein Vetter in Hong Kong, ich hätte Sinn für Ironie… Jedenfalls sendet er mir eine Bilderserie, die von einer Organisation unter dem Namen «Friends of Irony» zusammengestellt worden ist. Zum Schreien komisch. Etwa eine stark verrostete Blechbüchse, die «Rost-Öl» enthält, mit dem Werbespruch: «Verhindert das Rosten!». Oder die Aufnahme eines Privatflugplatzgebäudes mit dem Namen «American Aviation» und dem grossen Plakathinweis auf die Flugschule, mit dem Bild eines kleinen, modernen Hochdeckers mit Bugrad, darunter der auf den Hauseingang weisende Pfeil und die höchst suggestive Aufforderung: «Lerne HIER fliegen!» – am Boden ein paar Schneeflecken, der majestätische Baum vor dem Eingang noch ohne Laub – in der Baumkrone das jämmerliche Wrack eines Tiefdeckers, der offenbar die Landung nicht ganz geschafft hat. Oder ein Yachthafen, könnte in Nizza sein, wo zwei Touristen auf einen Kastenwagen weisen, der ganz offensichtlich zu spät gebremst hat, über die Hafenmauer abgekippt ist, und Schnauze voran im Meer steckt; der Werbeaufdruck auf der Seite des Kastenwagens: «TITANIC Service» mit Telefonnummer. Sehr lustig! Heiter! Oder an einem Brückenpfeiler die grosse quadratische Tafel, darauf steht ganz gross: KRISENBERATUNG, darunter zwei Zeilen: ES GIBT HOFFNUNG / RUFEN SIE AN, darunter etwas kleiner, dafür eingerahmt: DIE FOLGEN EINES SPRUNGS VON DIESER BRÜCKE SIND TÖDLICH UND TRAGISCH – darunter der offene Kasten mit dem Nottelefon, über dem Nottelefon ebenfalls ein Plakat: «Zur Zeit ausser Betrieb, benützen Sie Ihr Handy», und die Rufnummer. Ha, Ha, Ha? Oder: Falls Sie sich von einer Brücke zu stürzen gedenken, vergessen Sie Ihr Handy nicht? Ha? Ha? Ha? Ein Denkversuch? Ein befreundeter Regisseur lebte als Kind im Berner Mattequartier. Die Elternteile zu Hause, damals meist Mütter, lebten, wenn die Kinder vor dem Hause, unter der Mauer der Münsterplattform spielten, unter ständiger Spannung. Ein beliebtes Spiel der Kinder hiess: «S chunnt wider eine!» – Der Spielverlauf? Eines der Kinder, in der Mitte der Kinderschar, warf eine Stoffpuppe so hoch wie nur möglich in die Luft und schrie dabei: «S chunnt wider eine!» – alle Kinder stoben auseinander. Wer dann am nächsten bei der Aufschlagstelle der Puppe war, hatte verloren. Nun, die Mütter hatten alle einen kleinen Stapel Wolldecken drinnen vor der Haustüre placiert. Rief eine der Mütter: «S chunnt wider eine!», rannten alle anderen, die es gehört hatten, hinaus, damit möglichst rasch die zerschmetterte Leiche zugedeckt und die Kinder in die Häuser hineingezerrt werden konnten. Versuch einer Trauma-Prävention für viele bei einer finalen Problemlösung eines einzelnen Menschen. Ein Städtischer Baudirektor, der Doktor in Büchners «Woyzeck» würde ihn als «ein guter Mensch» bezeichnet haben, hat während seiner Amtszeit veranlasst, dass etwa zwei Meter unterhalb der Mauerkante um die Münsterplattform herum ein solides, schräg gegen oben gerichtetes Drahtnetz gespannt worden ist. Wer nach dem verzweifelten Sprung über die Brüstung dort landet und unverletzt bleibt, wird so geschockt und auch entwürdigt sein, dass sie oder er, auch wenn es theoretisch möglich wäre, kaum die Netzschräge hinaufklettert und sich zum endgültigen Flug über die Netzkante hinüberwälzt. Einsichtig geworden? Statistisch betrachtet vermutlich schon, und der Erfolg der politischen Kultur wird fast ausschliesslich statistisch gemessen. Das Kinderspiel in der Matte wird obsolet geworden sein. Beidseitig der Kornhaus- und der Kirchenfeldbrücke verhindern Drahtnetze den Sprung über die Geländer, zumindest an den meisten Stellen, und Plakätchen an den Drahtnetzen erklären klar, dass das Klettern auf den Netzten VERBOTEN IST. Gute Bürgerinnen und Bürger übertreten Verbote nicht. Nicht einmal zuletzt. Falls die Selbsttötungsrate – dank der baulichen Massnahmen – gesunken ist: ein zuverlässiger Hinweis, dass die Bevölkerung Berns glücklicher geworden ist? Vergleichbarer Mechanismus wie bei den Ausgesteuerten: sie erscheinen in den Statistiken auch nicht als arbeitslos. Problem gelöst? Arbeitsdruck gesunken? Mobbing eliminiert? Sinnentleerte Arbeit auch? Ebenso wie Aufstiegsgerangel? Ablenkungsangebot als Zusatzversicherung tauglich? Kommunikationsprobleme inexistent? Wie es ja auf dem Plakat der amerikanischen Brücke heisst: Es gibt Hoffnung… Und die meisten Menschen haben ein Handy. Ob sie lesen können oder nicht. (Zurück zu den Statistiken: Ist nicht jede fünfte Person nicht alphabetisiert? Lesen und schreiben einfacher Texte nur einer privilegierten Minderheit zugänglich? Haben Sie sich selber schon ertappt, wie Sie unter Analphabetismus leiden? Beispielsweise in einer asiatischen oder orientalischen Kleinstadt, in der Sie keinen einzigen Strassennamen, keinen Werbespruch lesen können, und sich etwa ausgerechnet erst wieder als Mensch fühlen, wenn Sie eine Coca-Cola-Reklame des Logos, der Farben wegen entdecken?) Wenn die Selbsttötungsrate – dank der baulichen Massnahmen – gesunken ist: wo bleibt der Beitrag zur Problemlösung der Überalterung der Gesellschaft? Nur halb so schlimm: so lange die Versicherungen bezahlen, sind alte, sehr alte Menschen ganz bis zum Schluss eine willkommene Verdienstquelle, helfen das Bruttoinlandprodukt steigern, und damit das Wachstum der Branche. Weder Würde noch Glück sind statistisch erfassbar, politisch also irrelevant. Und gibt es am Ende doch Verzweifelte? EXIT hilft vielleicht, aber nur bei nachweislich unheilbaren Krankheiten. Und der Anteil Menschen mit psychischen Störungen – was immer das heissen mag, was immer die Folgen sind – nimmt in unserer Gesellschaft ständig zu. Sich vor einen Zug werfen? Wer heilt dann den psychisch krank gewordenen Lokomotivführer? Wer ist schon Apotheker oder Chemikerin, oder wirkliche/r Kenner/in der Wirkung giftiger Pilze, so dass ein sanftes Entschlafen möglich wäre, ohne dass ein Lokomotivführer oder eine Kinderschar traumatisiert werden müsste – wenn die Verzweiflung zu gross ist? Auf den ersten Blick sind die mir von meinem Vetter zugeschickten Bilder einfach nur lustig. Unbeabsichtigte Zufälle, mag man denken. Unbeabsichtigte? Unbewusste? Zwei Plakate übereinander. Das obere: eine besorgt dreinschauende «Ärztin», rechts der Text: Kinderfettleibigkeit solle nicht leichtgenommen werden; das untere: eine strahlende junge Frau mit Einkaufslisten in beiden Händen – auf einem McDonald’s Plakat; geplanter(?) zufälliger(?) Widerspruch auf ein und dem selben Bild? Oder: willkommene Kulturvermittlung: Plakat für eine Ausstellung des «African American Museum» im Sedgwick Gefängnis? Oder das Wochenprogramm in einem Kirchgemeindehaus: Montag: Anonyme Alkoholiker; Dienstag: missbrauchte Ehefrauen; Mittwoch: Essstörungen; Donnerstag: Sag NEIN zu Drogen; Freitag: Wache gegen Selbstmorde von Teenagern; Samstag: Suppenküche; Sonntag «Amerikas Frohe Zukunft». Gedankenlosigkeit? Blanker Zynismus? Hegemonie der Werbung auf allen Fronten? Lesen- und Schreibenkönnen ein Privileg? Friends of Irony liefern auch dazu ein Beispiel, diesmal aus England: Einer britischen Umfrage ist zu entnehmen, dass die Frage, ob man der Meinung sei, es gebe gegenwärtig zu viele Fremde im Lande, von 18% mit JA beantwortet worden sei, 82% hätten wie folgt geantwortet: (es folgt eine Zeile in arabischer Schrift). Der Vorschlag aus den USA: Können Sie nicht lesen? Dann schreiben Sie uns… Wir helfen. Auf den ersten Blick ist es zum Schreien komisch; auf den zweiten erschliesst sich verstehendes Schmunzeln; auf den dritten klickt – vielleicht — der Denkapparat an. Vielleicht denkt mein Vetter in Hong Kong, ich hätte Sinn für Ironie. Was er mir geschickt hat, geht tief. Ein bisschen Ironie?
Foto: zVg.
ensuite, November 2011