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Auf Schienen durch Europa

Von Hannes Liechti — Viere­in­halb Wochen lang im Zug durch Europa. Von Griechen­land bis Finn­land; Google-Maps kommt auf über 10’000 Kilo­me­ter. Ein Reise­bericht über die Ent­deck­ung der Langsamkeit, Bahn­höfe, die Geschichte des Zug­fahrens, und das Pro­jekt Europa. Kurz, über Kul­tur auf und neben den Schienen.


«Ir Yse­bahn sitze die Einte eso
Dass si alles was chun­nt scho zum Vorus gseh cho
Und dr Rügge zuechehre dr Richtig vo wo .. dr Zug chun­nt»


Mani Mat­ter besingt in seinem Lied einen Kon­flikt zwis­chen jenen Zug­pas­sagieren, die vor­wärts fahren, und jenen, die sich mit dem Rück­en zur Fahrtrich­tung hinge­set­zt haben. Gut möglich, sog­ar sehr wahrschein­lich, dass der Bern­er Trou­ba­dour sein Lied heute umdicht­en müsste. Zahlre­iche Tun­nels und die Flugzeugbestuh­lung erübri­gen die Frage nach der Blick­rich­tung. Nos­tal­gik­er und Futur­is­ten sind gezwun­gen, in die gle­iche Rich­tung oder ins Schwarze zu schauen. Und auch die immer schneller wer­den­den Züge lassen alles zwis­chen Bahn­hof A und B immer unwichtiger und neben­säch­lich­er erscheinen. Die Inter­rail­reise bot mir die Möglichkeit, für ein­mal wieder ver­schiedene Blick­rich­tun­gen einzunehmen, und das gle­ich in mehrfach­er Hin­sicht.

I. Die Ent­deck­ung der Langsamkeit 1983 schrieb der deutsche Schrift­steller Sten Nadol­ny den Roman «Die Ent­deck­ung der Langsamkeit» und porträtierte dabei den englis­chen Kapitän und Polar­forsch­er John Franklin. Im Gegen­satz zu Mani Mat­ter muss Nadol­ny seinen Roman aber nicht umdicht­en, er ist nach wie vor aktuell: Die Langsamkeit muss zuerst ent­deckt wer­den. Wun­der­bar geht das zum Beispiel in den pol­nis­chen Nahverkehrszü­gen. Oder im Balkan-Express von Thes­sa­loni­ki nach Bel­grad: Aus ein­er zweistündi­gen Abgangsver­spä­tung wurde eine fün­f­stündi­ge Ankun­ftsver­spä­tung. Zeitweise schien der Zug mit nicht mehr als etwa 50 Stun­denkilo­me­tern durch den Balkan zu tuck­ern. Die Beze­ich­nung «Express» ist also defin­i­tiv über­trieben. Während hierzu­lande die Ner­ven ja bere­its bei ein­er Ver­spä­tung von weni­gen Minuten blank liegen, funk­tion­iert das auf Inter­rail jedoch ohne Ver­lust der­sel­ben: Auf Inter­rail darf man dafür Zeit haben.

II. Das Zen­trum der Reise Diese Zeit gab mir die Gele­gen­heit, zu lesen. Alles, was sich in let­zter Zeit so ange­sam­melt hat­te. Darunter auch ein Büch­lein von Peter Bich­sel. Und es gibt wohl nichts Passenderes, als im Zug Bich­sel zu lesen. Er, der nicht nur zum Zug­fahren eine ganz beson­dere Affinität entwick­elt hat, son­dern vor allem auch zum Ort des Bahn­hofes an sich. Was für Bich­sel schon seit jeher die «Mitte ein­er anderen Welt» war, hat sich für mich zum Zen­trum der Reise entwick­elt. Allerd­ings pflegte ich die Bahn­höfe jew­eils etwas länger zu ver­lassen, als Bich­sel im Film Zim­mer 202. Trotz­dem sind mir von vie­len Orten charak­ter­is­tis­che Erin­nerun­gen geblieben: So ist in Rom die Bahn­hof­skirche unüberse­hbar. In Neapel wurde mir von der Bah­nge­sellschaft ger­at­en, anstelle des Zuges doch ein pri­vates Busun­ternehmen zu benutzen. In Däne­mark wer­den die ursprünglich franzö­sis­chen Wörter «Per­ron» und «Bureau», wie bei uns, eben­falls ver­wen­det. In Patras bekam ich ein handgeschriebenes Tick­et, und der Haupt­bahn­hof von Athen ist kaum gröss­er als jen­er von Büm­pliz-Nord. Das dafür umso unüber­sichtlichere Pen­dant in Warschau wurde zu Beginn der 70er-Jahre aus Anlass eines Besuch­es von Leonid Breschnew gebaut. (Der Parte­ichef der KPdSU litt unter Flu­gangst.)

III. Die Geschichte des Zug­fahrens Inter­rail, das bedeutet Zug fahren. Und immer wieder stösst man dabei auf ver­schiedene Funk­tio­nen, welche die Eisen­bahn von der Ver­gan­gen­heit bis heute innehat­te. Auf dem Weg von Athen nach Thes­sa­loni­ki schlän­gelte sich der Zug beispiel­sweise inmit­ten ein­er hüg­li­gen Land­schaft an zer­fal­l­enen Stein­hüt­ten vor­bei, die von der früher wohl wichti­gen Erschlies­sung dieser Gegend durch die Eisen­bahn zeu­gen. In Polen, einige Kilo­me­ter weit­er, öffnete sich ein dun­kles Kapi­tel: Dort wur­den im zweit­en Weltkrieg mit Hil­fe der Eisen­bahn Mil­lio­nen von Juden und Ange­höri­gen von weit­eren Men­schen­grup­pen in den Tod trans­portiert. Das Eisen­bah­n­gleis führte bis ins Innere des Konzen­tra­tionslagers Auschwitz-Birke­nau, in der Nähe von Krakau. In Skan­di­navien zeigte sich schliesslich eine heute immer wichtigere und nicht ganz unprob­lema­tis­che Funk­tion der Eisen­bahn: der Pen­delverkehr. Täglich pen­deln mehrere Tausend Men­schen über die Öre­sund­brücke zwis­chen Süd­schwe­den und Kopen­hagen. Die dazwis­chen liegende Gren­ze wird schon lange nicht mehr wahrgenom­men.

IV. Das Pro­jekt Europa Inter­rail, das bedeutet Zug fahren in Europa. Doch was ist eigentlich Europa? Die Inter­rail­reise zeigte mir Europa mit all seinen Gemein­samkeit­en und Unter­schieden. Inter­es­sant waren nicht nur die ver­schiede­nen Men­tal­itäten, die sich beson­ders in ganz prak­tis­chen Din­gen wie den Ess­ge­wohn­heit­en, klis­chee­haft her­auskristallisierten, son­dern auch poli­tis­che und religiöse Unter­schiede. So spürte man in der noch jun­gen Repub­lik Polen einen omnipräsen­ten Patri­o­tismus, welch­er in Zen­traleu­ropa undenkbar wäre. In ebendiesem Polen fiel die erdrück­ende Dom­i­nanz der katholis­chen Kirche auf, was sofort an Ital­ien erin­nerte. Verge­blich sucht man aber Ähn­lich­es in der Slowakei, oder in Skan­di­navien.

Es war dabei wichtig, nicht nur einen einzel­nen Städtetrip gemacht zu haben, son­dern die ganze Reise an einem Stück. Es blieb pro Sta­tion zwar nur wenig Zeit, dafür wur­den die Dis­tanzen inner­halb Europas ganz neu erfahrbar. Eine venezian­is­che Ton­scherbe im Muse­um des mit­te­lal­ter­lichen Turku in Finn­land ist nicht mehr ein­fach nur ein archäol­o­gis­ches Bruch­stück. In der noch wachen Erin­nerung an die drei Wochen zuvor besuchte Lagunen­stadt, wurde die mit­te­lal­ter­liche Bedeu­tung eines venezian­is­chen Kruges vorstell­bar. In ein­er Zeit ohne motorisierten Verkehr war Venedig in Finn­land ver­mut­lich, was für uns heute Shang­hai oder Tokio ist. Die Inter­rail­reise schärfte den Blick für das Andere. Auch wenn es «nur» Europa ist.

V. Am Ende der Welt In Gokels, einem kleinen nord­deutschen Dorf in der Nähe Lübecks, fand ich, was die Reise bis­lang ver­mis­sen liess: die Natur. Es schien, als sei ich am Ende der Welt angekom­men – ein Pfeil mit der Auf­schrift «let­zter Weg­weis­er» bestätigte dieses Gefühl zusät­zlich. Freilich, dieser Halt war nicht geplant, durch das Ein­steigen in einen falschen Zug aber selb­stver­schuldet. Auch das gehört zu Inter­rail und war nach all den Städtetrips eine willkommene Abwech­slung. Ich dachte an Peter Bich­sel: «Ich mag es, Züge zu über­sprin­gen.»

Foto: zVg.
ensuite, Okto­ber 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 21. November 2018