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Aufstand

Von Fabi­enne Naegeli – «No hay camino!» und «Vor die Hunde» im Tojo The­ater: «Cam­i­nante, no hay camino, se hace camino al andar.» Das spanis­che Sprich­wort nach einem Gedicht von Anto­nio Macha­do weist Reisende darauf hin, dass es keine Wege gibt, son­dern diese nur entste­hen, indem man sie geht, und kann als Leitgedanke des vierten The­ater­pro­jek­ts von The­ater Nil ver­standen wer­den. Das 2008 als Teil des Freizeitzen­trums «insieme» gegrün­dete Ensem­ble ermöglicht pro­fes­sionelles, kün­st­lerisches Schaf­fen von Behin­derten. Aus­ge­hend von der Lebenswirk­lichkeit und den Inter­essen der Darstel­len­den wid­met sich das Stück «No hay camino» dem The­ma Völk­er­schau, und damit dem Anders- und Aus­gestellt-Sein als Men­sch. Noch bis 1935 haben in der Schweiz Völk­er­schauen stattge­fun­den. Der Reiz des Frem­den und Exo­tis­chen zog die Massen an, die von der Authen­tiz­ität und der Ursprünglichkeit der Aus­gestell­ten begeis­tert waren. Für viele war es die einzige Möglichkeit, mit anderen Kul­turen in Kon­takt zu kom­men. Mit kolo­nialem und impe­ri­alem Ges­tus wur­den die Unter­legen­heit der Indi­ge­nen und die eigene Über­legen­heit präsen­tiert. Diese Mech­a­nis­men der Zurschaustel­lung wer­den in «No hay camino» aufge­grif­f­en, und damit der Blick auf Behin­derung als Phänomen in Frage gestellt und reflek­tiert. Im Ama­zonas wurde ein unbekan­nter Indio-Stamm ent­deckt, der nun in einem Muse­um aus­gestellt wird. In Sicher­heit, hin­ter einem Netz kön­nen die BesucherIn­nen die Dor­fäl­teste, eine Medi­z­in­frau bei ihren Heilungsritualen, den mal­en­den und Geschicht­en erzäh­len­den Kün­stler, sowie den Stammeshäuptling und seinen Zudi­ener bei alltäglichen Ver­rich­tun­gen betra­cht­en. Während ein­er Muse­ums­führung kommt es zum Eklat. Die Indi­ge­nen haben genug von der Unter­drück­ung und dem Vorge­führt wer­den. Sie wollen selb­st bes­tim­men wie sie sich zeigen, und starten eine Revolte. Doch die neuge­wonnene Frei­heit führt zu stammesin­ter­nen Kon­flik­ten. Ein Rück­zug in den abgeschlosse­nen Raum wird in Betra­cht gezo­gen, ist aber keine Lösung, wie man fest­stellen muss. Nur zusam­men, als Gemein­schaft kann man beste­hen und sich selb­st sein.

Lorenz war ein Lebe­mann. Draufgän­gerisch und frei­heit­sliebend, manch­mal ein Frauen­held, genoss er sein rauschhaftes Dasein. Doch das war früher, bevor es passierte, und die Vergänglichkeit plöt­zlich in sein Blick­feld rück­te. Solange noch Zeit ist, müssen die aufgeschobe­nen «to do»-Listen abgear­beit­et und Geschicht­en aus der Ver­gan­gen­heit geord­net wer­den. Mit Lorenz’ Schick­salss­chlag erwacht auch der quirlige Kas­par zum Leben, Lorenz’ Spiegel­bild und sein Alter Ego. Zwis­chen den bei­den entwick­elt sich ein Macht­spiel. Kas­par, die teils trotzige, per­son­ifizierte Stimme aus Lorenz’ Kopf, ver­sucht den in sich gekehrten Men­schen, der gegen die Angst und das dro­hende physis­che Ver­schwinden kämpft, aus der depres­siv­en Monot­o­nie her­aus zu lock­en, und ermutigt ihn, der Wahrheit von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten. Er stört und provoziert den in seinem per­sön­lichen Lei­den­skarus­sell Gefan­genen, um in ihm die ver­lorene Lebens­freude und
‑energie zu weck­en, und damit Absprungs- und Auswegsmöglichkeit­en aus dem Prozess des Ver­drän­gens aufzuzeigen. Die Endlichkeit von Lorenz wird im Zer­fall­en der Aussen­welt gespiegelt, die durchs Radio in den Mikrokos­mos von Lorenz’ Woh­nung ein­dringt. MYDRIASIS/lulukulli the­ma­tisieren in ihrem tragikomis­chen Zweiper­so­n­en­stück «Vor die Hunde. Ein Drehspiel in neun Bildern» mit witzig schnellen Dialo­gen den Weg des Akzep­tierens der eige­nen Vergänglichkeit, und nehmen dabei die in unser­er heuti­gen Zeit an den gesellschaftlichen Rand gedrängten The­men wie Ster­ben und Krankheit auf.

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Foto: zVg.
ensuite, Feb­ru­ar 2013