Von Gabriela Wild — Dass Bücher sprechen können überrascht seit es Hörbücher gibt nicht mehr. In der Human Library kann man sich aber sogar Bücher ausleihen, die Fragen beantworten und gewillt sind, sich mit dem Leser auf eine Diskussion einzulassen. Die menschlichen Bücher sind öffentliche Vertreter einer bestimmten soziologischen Gruppe. In der Human Library stehen sie dem interessierten Leser je zu 30 Minuten zur Verfügung. Sie erzählen aus ihrer Perspektive und lassen sich gerne von dem Leser unterbrechen, um die Narration im Dialog voranzutreiben. Das Konzept der Human Library entstand 2000 in Dänemark. Seitdem wurde das Projekt in zahlreichen Ländern durchgeführt und findet nun auf Initiative des Belluard Bollwerk International zum ersten Mal in der Schweiz statt.
Für 2010 hat das Belluard Festival zusammen mit dem Migros-Kulturprozent unter dem Titel URBAN MYTH Projekte ausgeschrieben, die sich Stadtmythen widmen. Gesucht wurden spielerische und radikale Ideen, die moderne Legenden verbreiten, entlarven, entwickeln oder sich auf andere Art mit ihnen auseinandersetzen. Zu den Wettbewerbsgewinnern gehören unter anderem Nicolas Galeazzi und Joël Verwimp. Sie werden dem Festivalpublikum in einer fortlaufenden Redaktionsarbeit mit einem Kopiergerät vor Augen führen, wie Mythen entstehen. Ihre performende Zeitung Coytl Yournal dementiert und verlinkt Gerüchte um den Künstler Damien Hirst, dessen Werk – der mit Diamanten besetzte Totenschädel — das aktuell teuerste Kunstwerk der Welt ist – und Gerüchte um den Lockerbie-Attentäter und lybischen Geheimdienstoffizier Abdel Basset Ali al-Megrahi, der von der britischen Regierung unter dem Vorwand einer unheilbaren Krankheit aus lebenslanger Haft entlassen wurde. Das Kollektiv United Patriotic Squadrons of Blessed Diana (UPSBD), ebenfalls Wettbewerbsgewinner, vergleicht Mythen aus Frankreich mit solchen aus der Schweiz. Wer ist in Freiburg der Terrorist? Worüber redet man am Stammtisch im Greyerzerland? Wovor hat der Schweizer Angst? UPSBD entwickelte eine urbane Choreografie, in der es um Politik, Manipulation, Wahrheit und Verschwörung geht. Zufall und Willkür kollidieren mit den Plänen der Künstler. Jonathan Drillet und Marlène Saldona sind die Gründer von UPSBD. Das Kollektiv wurde 2008 ins Leben gerufen als Antwort auf die Frage: Wenn man bedenkt, dass der Mensch Kunst macht, um zu verhindern, dass er an der Wahrheit stirbt, warum dann Künstler sein, wenn man doch auch einfach seine Katze Angora Olson und seinen Hund Muddy Waters nennen kann? In dem Tanzstück Logobi04 von der Regisseurin Monika Gintensberger und dem Bildenden Künstler Knut Klassen treffen traditioneller afrikanischer Tanz und europäische Tanztradition aufeinander. Der ivorische Tänzer Franck Edmond Yao und der Deutsche Jochen Roller demonstrieren, warum z.B der afrikanische Strassentanz Logobi, auch wenn er urban und modern aussieht, dem Regentanz aus dem Dorf näher ist als dem europäischen zeitgenössischen Tanz. Sie zeigen, wie sie ihre Körper auf einem national-afrikanischen und einem internationalen Markt anders einsetzen. Dabei vermitteln sie ihre unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, Traditionen und Ästhetiken. Als Plattform für aufkommende Künstler aus dem In- und Ausland will das Festival Künstler nachhaltig in ihrem Schaffen unterstützen. Dadurch ergibt sich auch für das Publikum die Möglichkeit, an der künstlerischen Entwicklung teilzuhaben und die Veränderungen in der Arbeit eines Künstlers zu beobachten. In diesem Sinne verfolgt das Festival auch die choreografische Arbeit von Christoph Leuenberger, der bereits 2008 in dem Stück b.o.b@fribourg von Dick Wong in Freiburg zu Gast war. Das Kollektiv White Horse um Leuenberger geht in dem Tanzstück «Trip» auf Spurensuche auf historischen Schlachtfeldern und stiehlt die grossen Gesten von Kampfesgeist und Pathos aus Eisensteins «Panzerkreuzer Potemkin».
Kulinarisch wird das diesjährige Festival wieder von dem Gastro-Küchenkonzept kitchain – dem letztjährigen Wettbewerbsgewinner – abgerundet.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2010