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«Bern ist Augenblick einer Träumerei»

Von Hannes Liechti - In der Serie «Musik für» wer­den jew­eils eine oder mehrere Per­sön­lichkeit­en aus dem Bern­er Kul­turleben mit ein­er aus­gewählten Playlist kon­fron­tiert. Diesen Monat trifft es die in Bern lebende Vio­lin­istin Patri­cia Kopatchin­ska­ja.

Moldaw­ien, Chisin­au, Wien, Bern. Vier Sta­tio­nen im Leben von Patri­cia Kopatchin­ska­ja. Nicht, dass das schon alles wäre: Ständig ist die 35-jährige Vio­lin­istin auf Achse. Allein in diesem Jahr spielt sie beina­he 100 Konz­erte in über 50 Städten. Das Schweiz­er Fernse­hen und der Filmemach­er Béla Batthyany haben nun im Rah­men der Serie «Stars» ein wun­der­schönes Potrait über Kopatchin­ska­ja real­isiert. Doch auch das ist noch nicht genug. Dieser Tage veröf­fentlicht Kopatchin­ska­ja ihre neue CD mit Werken von Bartók, Ligeti und Eötvös, und im Novem­ber konz­ertiert sie mit dem Bern­er Sin­fonieorch­ester im Kul­tur Casi­no Bern.

Für das erste Stück habe ich dies­mal keinen Titel vor­bere­it­et. Vielmehr möchte ich von Ihnen wis­sen, welch­es Stück ger­ade in Ihrem Kopf läuft?

Béla Bartók
Sonate für Vio­line Solo (1944)

Patri­cia Kopatchin­ska­ja: Das ist die Solosonate von Bartók, die ich in zwei Wochen an mein­er Plat­ten­taufe in der Dampfzen­trale spie­len sollte. Es ist ein tolles, und gle­ichzeit­ig äusserst prob­lema­tis­ches Stück. Es quält mich wie ein Virus. Es legt alles lahm in meinem Kopf. Ich komme ein­fach nicht weit­er, es ist so unglaublich schwierig. Diese Sonate ist ein Hin­der­nis, über das ich nie richtig hin­wegkomme. Ich habe das Stück schon einige Male gespielt, aber nie wirk­lich gut. Die Arbeit daran bleibt wohl immer ein Aben­teuer.

Cun­nin­lyn­guists
«Lyn­guis­tics»
ab dem Album «Will Rap For Food»
(APOS Music, 2001)

Das ist die US-amerikanis­che Hip Hop-Gruppe Cun­nin­lyn­guists. In «Lyn­guis­tics» sam­peln sie eine Stelle aus dem Vio­linkonz­ert in D Op. 35 von Tschaikowsky.

Ein Ver­wandter von mir aus Basel, der eigentlich Jurist ist, macht mit grossem Erfolg Rap­musik. Er hat mit einem Dvorák-Konz­ert etwas Ähn­lich­es gemacht. Natür­lich wird diese Musik vielle­icht miss­braucht. Aber warum nicht? Es ist wie ein Kleid aus einem alten Kimono und neuen Ele­menten dazu…

Sie wür­den also sagen, man darf das?

Das muss man sog­ar, das spricht die Jugend an! Die Jun­gen hören die alten Klänge und empfind­en etwas, ohne sich sogle­ich zu fra­gen, was ist das für eine Form, was für ein Stil? Ich habe jet­zt nicht genau hinge­hört, aber die Texte sind meist aktuell und sprechen die Men­schen direkt an. Auch wenn sie vielle­icht nicht sehr poet­isch und vielschichtig sind. Doch genau das muss Musik tun: die Men­schen ansprechen.

Im SF-Film­por­trait von Béla Batthyany kom­men Sie auf dieses Werk zu sprechen und sagen, dass sie es sich anfangs gar nicht zu spie­len traut­en. Weshalb?

Alle spie­len es. Man fragt sich: Will ich meine ganze Kraft dafür opfern, etwas zu tun, was schon sehr oft unglaublich gut gemacht wurde? Werde ich etwas Neues find­en, was mich inter­essiert? Man begin­nt dann doch zu üben und irgend­wann, nach vie­len Jahren, kommt eine eigene Vision. Vielle­icht. Dazu gehört aber, dass man alle anderen Inter­pre­ta­tio­nen ver­gisst. Man hat son­st keinen Platz mehr für eigene Gedanken.

Lud­wig van Beethoven
«I. Alle­gro ma non trop­po» aus Vio­linkonz­ert Op. 61 in D‑Dur (1806)
Vik­to­ria Mullo­va & Orchestre Révo­lu­tion­naire et Roman­tique (Sir John Eliot Gar­diner, 2003)

(Patri­cia Kopatchin­ska­ja ste­ht auf, wirft einen Blick in die Noten, welche griff­bere­it in ein­er Schublade liegen, sucht ihr Smart­phone und prüft darauf mit einem Metronom das Tem­po der vorge­spiel­ten Inter­pre­ta­tion und set­zt sich wieder hin.)

Ich komme nicht rein ins Stück, wenn ich das anhöre. Das ist wie wenn ich ein Bild durch einen Schleier hin­durch betra­chte.

Wie ist Ihre Beziehung zu Beethoven?

Ich habe eine sehr inten­sive Beziehung zu Beethoven. Schade, dass er tot ist. (lacht) Mir gefall­en nicht zulet­zt die impro­visatorischen Ele­mente sein­er Musik und die Art, mit viel Humor, Sarkas­mus und Ironie zu schreiben.

Die Kri­tik­er der Erstauf­führung waren mit dem Vio­linkonz­ert nicht zufrieden. Sie bemän­gel­ten, dass das Werk «unzusam­men­hän­gend» sei und «viele ermü­den­den Wieder­hol­un­gen» bein­halte. Sehen Sie das auch so?

Nein. Man kann es sich heute nicht mehr vorstellen, dass man das ein­mal so empfind­en kon­nte. Schon die Kreutzer­son­ate war ein Schock: Das Pub­likum war wie erschla­gen. Und nach dem Vio­linkonz­ert dacht­en die Wiener: «Naja, wenn er so weit­er­ma­cht, dann wird das nix mehr.» Dabei ist dieses Werk heute eines der schön­sten Konz­erte über­haupt. Mann muss aber mit Frische range­hen, spielerisch und impro­visatorisch. Und man muss sich vorstellen, dass das Ganze im Hier und Jet­zt stat­tfind­et. Son­st funk­tion­iert es nicht.

Györ­gy Ligeti
«II. Aria, Hoque­tus, Choral: Andante con moto» aus Vio­lin Con­cer­to (1990–92)
Saschko Gawriloff & Ensem­ble Inter­Con­tem­po­rain (Pierre Boulez, 2006)

(Kopatchin­ska­ja unter­bricht bere­its nach den ersten vier Tönen der ein­lei­t­en­den, elegis­chen Melodie der Solovi­o­line.)

Das ist eine Melodie, die Ligeti ver­fol­gt hat. Er hat sie in vie­len anderen Stück­en ver­wen­det. Zum Beispiel im Bläserquin­tett. Mal kommt sie ganz schnell, lustig und rhyth­misch, mal kommt sie langsam und ganz alleine wie hier, und mal kommt sie polyphon und total struk­turi­ert. Diese Melodie ist für Ligeti wie ein Licht, das er immer wieder in seine Stücke hinein­lässt.

Wir haben die Inter­pre­ta­tion von Saschko Gawriloff gehört, dem Ligeti das Konz­ert wid­mete. Auf Ihrer neuen CD haben Sie das Werk auch einge­spielt. Wie sind Sie an diese Melodie herange­gan­gen?

Ich habe mir einen Volksmusik­er im All vorgestellt. Teile von ihm schweben im Kos­mos herum und auch sein Instru­ment ist noch da. Die Melodie ist die noch verbliebene Seele. Ich habe mich bemüht, sie so zu spie­len, als ob die Erde nicht mehr in Sicht wäre. Völ­lig schw­ere­los.

Haben Sie eine Lieblingsstelle dieses Werks?

Vom ersten bis zum let­zten Ton: Es ist ein einziger Wurf. Eines der besten Vio­linkonz­erte, die je geschrieben wur­den. Es gibt keine schwachen Stellen darin. Wirk­lich nicht. Es ist eine phänom­e­nale Kon­struk­tion. Und im ersten Satz, da bricht man sich die Fin­ger: Das ist ein Alp­traum auf der Bühne.

Peter Eötvös
«III. Third Caden­za» aus Sev­en (2006)
Patri­cia Kopatchin­ska­ja & Frank­furt Radio Sym­pho­ny Orches­tra (Peter Eötvös, 2012)

Das ist die dritte Kadenz von Peter Eötvös’ Vio­linkonz­ert «Sev­en» ab mein­er neuen CD. Das Werk ist den sieben Astro­naut­en gewid­met, die im let­zten Flug des Colum­bia Space Shut­tle umgekom­men sind. Die Kom­po­si­tion erweckt den Ein­druck, als ob man sich tat­säch­lich im Kos­mos befind­et. Es ist sehr speziell. Auch die Auf­stel­lung des Orch­esters ist ungewöhn­lich: Die sechs Geigen ste­hen links und rechts oben auf den Balko­nen, ich bin mit dem Diri­gen­ten im vorderen Teil der Bühne, und der Rest des Orch­esters befind­et sich im hin­teren. Es ist wie eine Unter­hal­tung zwis­chen den Ster­nen. Man muss sich das Stück unbe­d­ingt live anhören, um ein Gefühl davon zu bekom­men.

Neben den bei­den eben besproch­enen Werken spie­len Sie auf der neuen CD auch das zweite Vio­linkonz­ert von Béla Bár­tok. Welch­es Stück ist Ihnen am leicht­esten gefall­en?

Keines. Alle drei sind unheim­lich schwierig zu spie­len. Es ist eine blutige CD, hin­ter der viel Arbeit steckt. Physisch und Psy­chisch haben diese Ein­spielun­gen alles von mir abver­langt. Vielle­icht tra­gen die Auf­nah­men jet­zt umso mehr Kraft in sich.

Sie spie­len häu­fig mod­erne Musik. Weshalb hat sich aber der Grossteil des klas­sis­chen Konz­ert­pub­likums immer noch nicht damit ange­fre­un­det?

Auf diese Frage habe ich noch keine Antwort gefun­den. Es wun­dert mich sehr, dass die Leute keinen Zugang zur Neuen Musik find­en. Es ist eine äusserst apathis­che Stim­mung in der klas­sis­chen Musik spür­bar. Alle wollen nur das hören, woran sie gewöh­nt sind. Das finde ich trau­rig und bedrohlich zugle­ich.

Fazil Say
«III. Andan­ti­no» aus dem Vio­linkonz­ert «1001 Nights in the Harem» (2007)
Patri­cia Kopatchin­ska­ja & Luzern­er Sin­fonieorch­ester (John Axel­rod, 2008)

Das Vio­linkonz­ert des türkischen Pianis­ten Fazil Say. Er hat es für mich geschrieben. Ger­ade heute stand er übri­gens vor Gericht: Er wird angeklagt, weil er auf Twit­ter einen per­sis­chen Poet­en zitiert hat. Es dro­hen ihm einein­halb Jahre Haft. Das ist ver­rückt: So etwas geschieht heute in der Türkei.

(lauscht den Klän­gen der eige­nen Auf­nahme aus dem Jahr 2008)

Ich spiele das mit­tler­weile ganz anders. Man sollte ein Stück nie ganz am Anfang aufnehmen. Man sollte erst nach hun­dert Jahren eine CD ein­spie­len, aber solange lebt man nicht. Nun ja. Dieses Werk ist sehr exo­tisch und ero­tisch. Es geht um den Harem. Man riecht förm­lich all diese Gewürze und sieht den Rauch und die schö­nen Frauen, die halb nackt herum­schwirren. Eine märchen­hafte Musik. Spiel­bar und geniess­bar.

Sie haben dieses Werk schon unzäh­lige Male aufge­führt. Wie ist es, immer wieder mit anderen Orch­estern das gle­iche Stück zu spie­len?

Das ist nicht ein­fach. Ger­ade bei diesem Stück haben sich kul­turelle Unter­schiede bemerk­bar gemacht. Ich habe das Konz­ert auch in der Türkei gespielt. Dort musste ich nie erk­lären, dass man es mit Gefühl spie­len soll. Die Leute dort sind sehr tem­pera­mentvoll und haben diesen kraftvollen Klang verin­ner­licht. Man muss aber viel an der Organ­i­sa­tion und Struk­tur üben. Hierzu­lande ist es genau umgekehrt. Ich muss den Musik­ern erk­lären, was das für eine Musik ist. Ich benutze dazu oft Bilder und sage ihnen: «Das ist ein Rhyth­mus mit einem Mess­er in der Tasche» oder «das sind die bel­len­den Hunde von Istan­bul».

Sie spie­len das Vio­linkonz­ert im Novem­ber mit dem Bern­er Sin­fonieorch­ester. Wird das ein spezielles Konz­ert für Sie?

Dieses Konz­ert ist unheim­lich schön für mich, weil es nur ein paar Strassen weit­er stat­tfind­et. Was für ein Vergnü­gen, nicht reisen zu müssen, zu Hause wohnen zu kön­nen. Ausser­dem kenne ich so viele Leute im Pub­likum. Ich spiele für sie, das Konz­ert wird zum Dia­log mit Men­schen, die mir am Herzen liegen, die mich hier aufgenom­men haben. Bern ist eine Stadt, die nur Gutes für mich getan hat. Nur eines stört mich: Ich kann nicht im Belle­vue schlafen. Da würde ich gerne noch ein­mal ein Zim­mer bekom­men. (lacht)

Hat Bern einen speziellen Klang für Sie?

Ich assozi­iere Bern eher mit einem Bild. Das Bild der Bewe­gung ein­er Seifen­blase. Rund, langsam und sehr schön. Die Seifen­blase ist so schön durch­sichtig, verträumt und langsamer als alles andere, was herum­fliegt. Sie ist Augen­blick ein­er Träumerei.

Foto: zVg.
ensuite, Novem­ber 2012