Von Luca D’Alessandro — «RocCHipedia» ist eine Parodie auf die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft; eine Schweiz-Enzyklopädie aus der Feder des Kabarettisten Massimo Rocchi. Die Geschichte beginnt mit den drei Vertretern von Uri, Schwyz und Unterwalden, die sich auf der Rütliwiese «zum Brätlä» treffen und aus purer Geselligkeit – typisch schweizerisch – einen Verein gründen: die Eidgenossenschaft. Rocchi durchstreift die Ereignisse der vergangenen Jahrhunderte und bringt sie in Verbindung mit dem heutigen Schweizer Alltag – zu dem übrigens auch er gehört: Er legt seinen italienischen Mantel ab und zieht sich das Schweizer Trikot über.
Massimo Rocchi hat sich mit der Kultur seiner neuen Heimat befasst wie kaum ein anderer. Er hat sich in die Bibliotheken und Archive begeben, Universitätsprofessoren um Rat gebeten und Museen besucht. Er ist eingetaucht in die Eigentümlichkeiten der Eidgenossenschaft, die geschichtlichen Ereignisse hat er bis ins letzte Detail studiert. Entstanden ist «RocCHipedia», eine Lektion der besonderen Art.
In «RocCHipedia» lässt der Komiker keine Wissenschaft aus: Er nimmt die Konkordanz auf die Schippe, steckt Calvin und Zwingli in den Zwinger, analysiert Gesellschaft und Religion, Sport und Technik, Kunst und Kultur. Es ist eine Enzyklopädie, die uns in die Täler der Urschweiz führt, hinauf ins Gotthardmassiv, dann wieder hinunter nach Mailand, genauer nach Marignano, wo 1515 eidgenössische Söldner erfolglos das Herzogtum Mailand gegen ein übermächtiges französisches Heer verteidigten. «Seither leiden Schweizerinnen und Schweizer am Marignano-Komplex», so Rocchi, «die Geburtsstunde der Neutralitätspolitik.»
Rocchi selbst hat einen Wandel vollzogen. War er 1994 in seinem Bühnenprogramm «Äuä» noch der überwältigte Italiener, der seine ersten Eindrücke vom Grenzübertritt Italien-Schweiz und die Begegnung mit den Bernern beschreibt, wandelte er sich in den darauf folgenden zehn Jahren zum Italo-Schweizer. Dieses Thema führte er in «Circo Massimo» aus. «RocCHipedia» vollendet die Trilogie: Rocchi macht den Schritt und wird Schweizer. «Rocchipedia war ein grosser Schritt für mich.»
Ist das jetzt dein letzter gewesen?
Ich weiss es nicht. Die Arbeit an «RocCHipedia» hat meine gegenwärtige Identität eindeutig definiert.
Deine Identität als Kabarettist oder als Mensch?
Ein Kabarettist bezieht sich immer auf das Leben. Er braucht die Fiktion, um sich mit der Realität zu konfrontieren. In «Äuä» thematisierte ich den typischen Italiener, in «RocCHipedia» hingegen lebe ich meine Rolle als Schweizer. Es brauchte Zeit, mich zu diesem Schritt zu überwinden, ganze sechzehn Jahre.
Was ist deine Botschaft?
Ich will zu meiner Aussage stehen und bekräftigen, Schweizer zu sein. Ich kann nicht den Schweizer Pass benutzen und gleichzeitig so tun, als wäre ich Franzose, Engländer oder Italiener. Ein Pass ist kein Taschentuch, das man sich bei Bedarf unter die Nase reibt. Er symbolisiert eine Identität. Immer bekomme ich von Italo-Schweizern zu hören: «Wir sind Italiener» oder «Ich fahre heim nach Italien». Mit solchen Äusserungen kann ich nichts anfangen. Ich lebe in der Schweiz, benutze die Infrastruktur, bezahle Steuern. Kurzum: Ich interagiere mit meinem Umfeld. Wenn ich also ins Ausland fahre, bekenne ich mich zu meiner Identität als Schweizer, zu den Privilegien und Rechten, die ich hier geniessen darf. Ich wünschte mir, alle Einwanderer, die heute in Italien leben, hätten ähnliche Privilegien. Das ist leider nicht der Fall. Sie dürfen sich am politischen Geschehen nicht beteiligen. Ich als Auslanditaliener habe quasi mehr Mitspracherecht als die Einwanderer in Italien. Das finde ich nicht gerecht.
Wie ist diese Aussage in Zusammenhang mit «RocCHipedia» zu verstehen?
Ich habe eine Bühnenshow verfasst, die sich nicht auf ein geografisches Territorium bezieht, sondern auf eine Kultur, die mich von Anfang an geschätzt hat. Diese Kultur wird von Menschen geprägt, die mir zugehört haben, als es schwer war, mich überhaupt zu verstehen. Zu ihr bekenne ich mich heute, obwohl es trendiger wäre zu sagen «I am English», «Je suis français» oder «Je suis marocain». Wenn wir sagen, wir seien Schweizer, geben wir uns bescheiden und erwecken den Eindruck, Bürger eines Zweitliga-Landes zu sein: Profiteure, geldbesessen, reich und protzig. Warum eigentlich? Wir leben in einem wunderbaren Land, das wir tagtäglich aufs Neue mitgestalten. In «RocCHipedia» will ich die Leute motivieren, sich als Teil der Schweiz zu sehen.
Da fällt mir dein Leitspruch ein: «Es isch eso und fertig.»
Ein Leitmotiv, das am Ende der aktuellen Show mit dem Satz «Es isch eso und faht ersch aa» durchbrochen wird. Wir Schweizer müssen selbstbewusster werden und nach vorne schauen.
Sind es externe Faktoren, die dich dazu bringen, dich so deutlich zur Schweiz zu bekennen?
Unter anderem auch. Es gibt Menschen in Italien, die – wenn ich sie sehe – immer wieder behaupten: «Für euch in der Schweiz ist alles einfach». Ich bin Schauspieler, ich gehe nicht um halb zehn in eine Bar, um es mir bei einem Cornetto und Cappuccino gut gehen zu lassen. Ich stehe um halb sieben auf und beginne zu arbeiten. In der Schweiz ist nichts einfach, du musst etwas leisten. Es ist ein Land mit einer starken sozialen Kultur und das Denken ist gemeinhin liberal. Als Einwanderer habe ich erleben dürfen, wie gut ich in der Schweiz aufgenommen worden bin.
Trotzdem: Schweiz ist nicht gleich Schweiz. Am deutlichsten sind die Unterschiede entlang der Sprachgrenzen erkennbar…
…das ist korrekt…
…und nächstens wirst du im Théâtre Boulimie in Lausanne auf der Bühne stehen. Wirst du da dieselben Anekdoten bringen wie in Zürich?
Wieso nicht? Ich spreche überall von denselben Dingen – sowohl in der Westschweiz, als auch in Zürich oder in Bern. Da mache ich keinen Unterschied. Wenn ich in Zürich einen Witz über die Romandie mache, werde ich diesen auch in Lausanne bringen. Wir müssen aufhören, allbekannte Klischees unter den Teppich zu kehren. Es gibt sie ja! Es ist notwendig, dass darüber geredet wird. Ich setze mich für den offenen Dialog ein. Ich habe schwarzafrikanische Freunde, die mir gegenüber immer wieder betonen «I am black». Ich antworte jeweils «Schatz, ig bi e Tschingg.» Solange ich nämlich von mir selbst behaupte, ein «Tschingg» zu sein, kann mein Gegenüber das nicht mehr sagen. Ich sage es ja selbst.
Willst du damit einer möglichen Beleidigung zuvorkommen?
Ich will die Worte befreien – die Angst wegnehmen.
Welche Angst?
In der Schweiz hat man stets das Gefühl, sich für alles rechtfertigen zu müssen. In «RocCHipedia» spreche ich vom «Marignano-Komplex», sprich: sich nirgends einmischen wollen und es möglichst allen Recht machen. Wieso diese Bescheidenheit? Die Schweiz war im neunzehnten Jahrhundert eines der ersten Länder, das Eisenbahnlinien gebaut hat und heute über ein vorbildliches ÖV-Netz verfügt. Wir dürfen zu dem stehen, was wir sind.
Dann würdest du also behaupten, in der Schweiz funktioniere alles reibungslos?
Nein, nicht alles. Aber es funktioniert – «ça marche.»
Und in Italien?
Italien ist mir egal. Wenn ein Volk dreimal denselben Premierminister an die Macht stellt, liegt das Problem nicht in der gewählten Person, sondern im Land selbst. Ich mag nicht über ihn sprechen, denn er interessiert mich nicht. Ich habe mein Zuhause in Basel gefunden, wo ich meine eigene Kultur erschaffen durfte. Alle Italiener, die in der Schweiz leben, haben sich ihre eigene Kultur geschaffen. Sie sind Schweizer.
Trotzdem werden sie im Alltag als Italiener gesehen.
Das mag sein, aber sie verhalten sich wie Schweizer. Sie stehen um halb sieben Uhr auf, fahren zur Arbeit, gehen am Abend ins Kino oder ins Theater.
Dich zieht es schon bald nach Bern. Für Dezember und Januar sind Auftritte im «Zelt» geplant. Welche Bedeutung hat Bern für dich?
Ah, Bern! Ich liebe es. Hier hat alles angefangen. Bern ist mein Gotthard.
Infos: www.massimorocchi.ch
Foto: Michael Stahl
ensuite, Dezember 2009