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Bern — Lyon — Maguiy Marin: TANZ IN. BERN 2010

Von Roger Mer­guin — Bern, 18.9.2010, 11:34 Uhr. Ich bin unter­wegs nach Lyon. Das Pro­gramm für TANZ IN. BERN ist gemacht und ich fahre zur «Bien­nale de Danse Lyon», um mir das neueste Stück von Maguy Marin anzuse­hen, welch­es unser Fes­ti­val eröff­nen wird. Die Pro­duk­tion «Salves» habe ich schon vor fast einem Jahr für den Eröff­nungsabend gebucht. So lange Vor­laufzeit­en sind üblich bei solchen «Stars» der Tanzszene. In Bern wird das Stück erst­mals nach der Pre­miere in Lyon zu sehen sein – vor allen anderen Fes­ti­vals in Europa. Vor­erst bin ich aber noch im Zug. Reisen wie diese sind mein All­t­ag. Jährlich sehe ich durch­schnit­tlich 150 Pro­duk­tio­nen im In- und Aus­land.

Ich freue mich auf das Fes­ti­val und denke an all die Tänz­er und Tänz­erin­nen, die vom 20. Okto­ber bis 14. Novem­ber in der Dampfzen­trale auftreten wer­den. Bei einem Blick aus dem Fen­ster sehe ich auf dem Bahn­hofquai einen kleinen Jun­gen mit einem blauen Cow­boy-Pail­let­ten­hut rum­sprin­gen. Schöne Per­for­mance! So kön­nte Ivo Dim­chev mal gewe­sen sein – heute ist er um einiges radikaler in sein­er Darstel­lungs­form, aber eigentlich genau­so ehrlich und authen­tisch wie dieser Junge. Der Zug fährt los.

Spätestens in Romont erwache ich meis­tens aus meinen Gedanken, wenn ich in Rich­tung Romandie oder Frankre­ich unter­wegs bin. Das kleine Dör­fchen auf dem Hügel links, und rechts die atem­ber­aubende Aus­sicht, und die oblig­at­en Kühe auf den Wei­den. «Cows in Space» hiess das erste Stück von Thomas Hauert. Er hat die For­ma­tio­nen von Kuh­her­den als Inspi­ra­tion für seine Chore­ografie genom­men. Das war 1998. Zwölf Jahre später zeigt er in Bern seine neueste Kreation: «You’ve changed». Im Tanz hat sich in dieser Zeit tat­säch­lich einiges verän­dert. Ich denke Thomas Hauert ste­ht mit seinem neuen Stück eben­falls an einem Wen­depunkt sein­er Kar­riere, obgle­ich er sein­er Recherche über den Tanz treu geblieben ist.

Die Lüf­tung des Air­con­di­tion­ing im Zug rauscht in meinen Ohren. Eigentlich sitze ich hier in einem her­metisch abgeschlosse­nen Schlauch. Wie Cecil­ia Ben­golea & François Chaig­naud in ihren Latexkissen, die zuerst noch voller Luft sind. Von ein­er dom­i­nan­ten Dame wird die Luft mit einem Staub­sauger langsam abge­saugt, und die Latex­hülle umschliesst die darin gefan­genen Kör­p­er. Die Tat­sache, dass darin lebende Kör­p­er eingeschweisst sind, ist beängsti­gend, gle­ichzeit­ig geniesst man aber die reine Schön­heit dieser bek­lem­menden Fig­uren, die sich für eine gewisse Zeit in den Zus­tand zwis­chen Leben und Tod begeben, und sich am Schluss in einem Tanz der Befreiung wieder freiset­zen. Wie alle anderen Pro­duk­tio­nen von TANZ IN. BERN strahlt auch diese Intel­li­genz, eine klare ästhetis­che Hand­schrift, und Vir­tu­osität aus. Jede auf ihre ganz eigene Art. Man kann ein Stück auf sein Bewe­gungs­ma­te­r­i­al, sein Lichtkonzept, die szenis­che Umset­zung, den Rhyth­mus, den Umgang mit dem Raum, das Büh­nen­bild, die Kostüme, und die Musik hin beurteilen. Das mal als erste objek­tive Qual­itätsskala und Voraus­set­zung für ein gutes Stück. Aber dann kommt eben noch das gewisse etwas hinzu, wie zum Beispiel die Genial­ität von Jérôme Bel und die Art, wie er Tanzgeschichte auf die Bühne bringt. Mit Lutz Förster – dem Startänz­er von Pina Bausch –, und der ehe­ma­li­gen Tänz­erin der Paris­er Oper Véronique Dois­neau, ver­schafft er uns einen inti­men Ein­blick in das Tanzthe­ater und das klas­sis­che Bal­lett, geht dabei aber auch auf die ganz per­sön­liche Ebene der bei­den Tänz­er ein. Auch Witz und Ironie fehlen im Pro­gramm von TANZ IN. BERN nicht. CIE Ran­dom Scream/Davis Free­man ver­leit­et uns darüber nachzu­denken, was wir wohl mit einem Lot­to­gewinn anstellen wür­den. Jed­er Zuschauer erhält einen echt­en Lot­toschein, und wird somit zum poten­tiellen Gewin­ner, Investor, Wohltäter, Kap­i­tal­ist, Waf­fen­verkäufer oder vielle­icht sog­ar zum Kun­st­mäzen …

Ich habe «Das Mag­a­zin» vom Tage­sAnzeiger dabei. Titel­sto­ry ist Lady Gaga. Eine ein­fall­sre­iche ehe­ma­lige Kun­st­stu­dentin, die als Nach­fol­gerin von Madon­na beze­ich­net wird. Dieser Star­rum­mel ist ein Phänomen, und ich finde Frau Gaga vor allem in ihrer Kostümwahl ziem­lich fan­tasievoll. Stars gibt es auch im Tanz, aber der­art medi­al­isiert wird seit Nure­jew wohl schon lange kein Tänz­er mehr. Ein biss­chen Glam­our haben wir aber auch bei TANZ IN. BERN: Anna Huber wird mit dem Schweiz­er Tanz- und Chore­ografiepreis aus­geze­ich­net, und Chris Leuen­berg­er mit dem Net­work Kul­tur­preis. Bei­de sind notabene Bern­er, und bei­de sind Kün­stler welche schon seit län­gerem in der Dampfzen­trale pro­duzieren. Darauf darf man in Bern auch mal stolz sein!

Mit­tagessen: Ich kaufe vom «Wägeli» ein Sand­wich und ein Min­er­al­wass­er. Das Sand­wich ist laut Auf­schrift ein «Sand­wich gelaugt mit Vorder­schinken». Alles klar? Da ist unser Pro­gramm von TANZ IN. BERN mein­er Mei­n­ung nach doch bess­er beschrieben. Unter www.dampfzentrale.ch gibt es nicht nur Pro­gramm­texte, son­dern auch Video­trail­er zu den einzel­nen Vorstel­lun­gen zu sehen. Es ist also ganz ein­fach, sich ein Bild über das Pro­gramm zu machen. Manch­mal lohnt es sich aber auch, seine Erwartun­gen zu hin­ter­fra­gen – es ist nicht immer drin, was drauf ste­ht. Von Olivi­er Dubois zum Beispiel habe ich nach seinem let­zten Stück, welch­es er in der Dampfzen­trale gezeigt hat, wieder ein schwieriges und sehr polar­isieren­des Werk erwartet. «L’homme de l’Atlantique» ist aber eine leicht­füs­sige und liebevolle Hom­mage an Frank Sina­tra, mit her­vor­ra­gen­den Tanzein­la­gen, den Songs von Frank Sina­tra, und tollen Kostü­men. Da kann man sich ein­fach zurück­lehnen und in die 50er Jahre ein­tauchen.

Genf, 13:15 Uhr. Umsteigen auf den TGV nach Bel­le­garde, Lyon Part Dieu – Avi­gnon – Nice Ville. Lei­der nur bis Lyon. Niz­za wäre jet­zt auch schön. Oder Spanien! Cuqui Jerez kommt aus Spanien, und packt ihr Stück vor uns aus wie eine Babusch­ka (die ja eigentlich Matr­josch­ka heis­sen würde – siehe Wikipedia). Sobald man meint das Geschehen in «The Rehearsal» begrif­f­en zu haben, entwick­elt es sich in eine neue Rich­tung weit­er, immer wieder. Man kann her­zlich über sich selb­st und die komis­che Sit­u­a­tion auf der Bühne lachen, gle­ichzeit­ig lässt man uns an ein­er «realen» Proben­si­t­u­a­tion zu einem Tanzstück teil­haben. Das ganze ist per­fekt insze­niert. Lachen kann man auch bei Anto­nia Baehr, denn sie hat sich zum Geburt­stag von ihren Fre­un­den Lachen schenken lassen, und trägt die daraus ent­stande­nen Par­ti­turen ernst und kor­rekt vor. Dass Lachen zum Lachen bringt, ist dabei Pro­gramm.

Zoll Genf-Frankre­ich: Die ehe­mals funk­tionale Möblierung und Architek­tur der «Douane Française» ist nun nicht mehr in Betrieb, und zu ein­er net­ten Instal­la­tion umfunk­tion­iert wor­den. Wie aus ein­er anderen Welt. Apro­pos andere Welt und andere Kul­turen: Im Fes­ti­val gibt es einen Schw­er­punkt mit Kün­stlern aus Chi­na. Vor einem Jahr lud das Kul­tur­min­is­teri­um eine Del­e­ga­tion von Schweiz­er Ver­anstal­tern ein nach Chi­na. Ein Ergeb­nis dieser Reise ist die Ein­ladung von Jin Xing Dance The­ater. Die «Shang­hai Lounge» ist eine Zusam­me­nar­beit von Chris Har­ing und Jin Xing. Die ehe­ma­lige Offizierin, die jet­zt eine wichtige Chore­ografin in Chi­na gewor­den ist, überzeugt mit ein­er entspan­nten Lounge-Atmo­sphäre, und erzählt uns Anek­doten über die Frau in Chi­na, über Mode, Kul­tur und vieles mehr. 7 Tänz­erin­nen begleit­en die schöne Dame auf der Bühne. Eben­falls sind wir in kleinen Hin­ter­hof-Stu­dios, und auf winzi­gen Büh­nen in ver­steck­ten Bars auf junge inter­es­sante Chore­ografen aus Chi­na gestossen, die wir im Young Chore­o­g­ra­phers Project zeigen wer­den. Dazu kommt ein Aus­flug in die virtuelle Welt mit Cao Fei, welche mit ihrer Arbeit an die 52. Bien­nale in Venedig ein­ge­laden, und 2006 als beste junge Kün­st­lerin mit dem Chi­nese Con­tem­po­rary Art Award aus­geze­ich­net wurde …

Der TGV ist auch nicht mehr, was er ein­mal war. Der Lack ist ab. Die grün-grauen Pol­ster, und vor allem die graue Deck­en- und Wand­verklei­dung aus Filz, wirken nicht mehr so lux­u­riös. Meine erste Reise im TGV war ein Erleb­nis, und die Erin­nerung daran ist noch glanzvoll. Auch in «primero – erscht» von Les Bal­lets C de la B geht es um ein erstes Mal. Das ful­mi­nante Tanzstück zu Klezmer-Musik, mit 5 Tänz­ern, welche tech­nis­che Vir­tu­osität und eine ganz per­sön­liche Hand­schrift mit­brin­gen, nimmt uns mit auf eine lange Reise in unsere Kindertage.

15:31 Uhr Ankun­ft in Lyon. Auch meine Reise war lang, doch nun bin ich fast am Ziel ange­langt. Den Weg zum Fes­ti­valzen­trum der Bien­nale de Danse Lyon kenne ich schon. Vor zwei Jahren war ich dort auf dem Podi­um, unter anderen mit Jérôme Bel, und wir haben über den inter­na­tionalen Aus­tausch von TanzStück­en gesprochen. Im Fes­ti­valzen­trum tre­ffe ich schon die ersten Pro­gram­ma­teure. Die Gespräche und der Aus­tausch mit den inter­na­tionalen Kol­le­gen sind immer sehr span­nend. Vor allem freue ich mich über das Feed­back zum Pro­gramm von TANZ IN. BERN – die Kol­le­gen find­en das Pro­gramm anre­gend. Einige von ihnen werde ich in Bern wieder sehen. Jet­zt kann man ja nur noch hof­fen, dass das Pro­gramm auch hier in Bern auf gross­es Inter­esse stossen wird!

Dann mit der U‑Bahn ins The­ater.
Maguy Marin: «Salves»
Die Span­nung, bis es endlich anfängt.
Endlich ist es soweit.
Das Stück ist traumhaft, eine ful­mi­nante Fes­ti­valeröff­nung ist garantiert.

* Roger Mer­guin (1963) ist seit 2005 zusam­men mit Chris­t­ian Pauli Leit­er der Dampfzen­trale Bern. Er ist zuständig für Tanz/Performance und für das Fes­ti­val «Tanz in. Bern», das Nach­fol­ge­fes­ti­val der leg­endären «Bern­er Tanz­tage». Roger Mer­guin arbeit­et als Man­ag­er von Simone Augh­ter­lony (NZ), die sich in ver­schiede­nen Tanzstät­ten in der Schweiz und inter­na­tion­al einen Namen gemacht hat.

www.dampfzentrale.ch

Bilder: (v.l.) CIE RANDOM SCREEN/ DAVIS FREEMAN / CIE MAGUY MARIN / CECILIA BENGOLEA & FRANçOIS CHAIGNAUD / zVg.
ensuite, Okto­ber 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 23. November 2018