Von Marta Nawrocka - Der Koi-Fisch im Aquarium der Hotel-Lobby heisst Wilhelm Tell. Der arme. Ich frage ihn, ob er wohl schon «The Deep End» gehört hat, das neue Album von Madrugada. Würde ja noch passen, zu seiner Situation. «Blubb» sagt Wilhelm Tell nur. Naja, da warte ich wohl lieber auf Gesprächspartner, die sich besser artikulieren können. Zum Beispiel: Sivert Höyem, den Mann mit der Schokoladenstimme, und Robert Buras, den Meister der verklärten Gitarrenklänge. Die beiden sind zwei Drittel besagter Band namens Madrugada. Die Norweger trudeln auch schon in die Lobby ein, Sivert am Telefon. Er bespricht ein Konzert in Stockholm mit Madrugada-Bassisten Frode Jacobsen. Mit einer Stimme, die die Hotelhalle mit ihrem Bass vibrieren lässt. Nachdem er fertig gebrummelt hat, darf ich ihn und Robert über ihr neues Album be- und ausfragen. Wir lassen Wilhelm Tell bei den knipsenden Japanern zurück und begeben uns in eine gemütlichere Ecke. Die Männer aus dem hohen Norden bestellen sich: einen Tee. In Berlin war das nicht immer so, wie ich später im Interview erfahren darf. Aber erst mal was zur neuen Platte:
Euer Album «The Deep End» kombiniert die unterschiedlichsten Musikstile — über Blues, Folk, Rock bis hin zum Soul. Trotzdem hört es sich kompakt an. Wie habt ihr die Harmonie bewahren können?
Robert: Wir haben uns vor allem auf die Melodien konzentriert. Egal um was für einen Musikstil es sich handelt — ob es ein schneller oder langsamer Song ist — es sollte ein gutes Stück mit einer guten Melodie sein. Das war so eine Art Mission für uns.
Sivert: Wir hatten da kein Konzept oder so etwas in der Art. Wir kümmerten uns nur um gute Lieder. Das Album hat aber auch diese Roots-Elemente: den Blues, wie du erwähnt hast, aber auch Gospel und den Country. Diese Elemente hört man verstärkt auf diesem Album — mehr als auf denen zuvor.
Robert: Wir arbeiteten auch sehr lange an den Liedern. «The Lost Gospel» geht auf die vorletzte Platte «The Nightly Disease» zurück. Wir hatten ihn seit dann nicht mehr gespielt — bis wir ihn aus unserer Überraschungskiste herausnahmen.
Also sind es quasi alte Bekannte?
Sivert: Ja, so arbeiten wir nun mal. Anfänglich sind es nur ein paar Griffe, ein bisschen Melodie und ein paar Textzeilen — dann nennen wir es einen Song. Dann liegt der eine Weile lang rum und irgendjemand bastelt ein bisschen daran. Wir spielen ihn auch nicht oft bevor wir ihn endgültig wieder verstaubt aus dem Schrank holen und fertig stellen. Eigentlich reden wir mehr darüber, als ihn zu spielen. Manchmal kann man auf diese Weise ziemlich enttäuscht werden: man spielt das Lied wieder und es ist nicht mehr so eindrücklich wie man es in Erinnerung hatte.
Wie war es denn mit der Harmonie in der Band? Ihr habt ja alle ziemlich unterschiedliche Musikstile und ‑präferenzen.
Robert: Als unser erster Drummer die Band verliess veränderte sich die ganze Chemie zwischen uns. Wie man auf unserem letzten Album «Grit» hören kann war zu dieser Zeit niemand zu Kompromissen bereit. Nach «Grit» tourten wir, dann gingen unsere Wege ein bisschen auseinander. Sivert verfolgte seine Solopläne, ich habe an anderen Sachen gearbeitet, Frode an einem Soundtrack. Dies war gut für die Band, es hat unseren Geist aufrecht erhalten. Danach gingen wir wieder zu täglichen Proben über. Wir arbeiteten sehr, sehr hart. Wir kamen alle wieder nach Oslo und lebten dort zusammen. Frode hatte nämlich zwei Jahre in Berlin gewohnt, Sivert und ich ein halbes Jahr.
Wenn wir gerade von eurem Vorgänger «Grit» sprechen: dieses Album hat bei den meisten Madrugada-Fans ziemlich angeeckt. Da hörte man Kommentare wie «Das ist nicht mehr das wahre Madrugada». Euer neues Album führt die Tradition von «Grit» nicht fort. Hatten diese Reaktionen damit zu tun?
Sivert: Nein, das hätten wir sowieso gemacht. Es hatte mit dem Weggang von Jon, unserem Drummer zu tun. Wir mussten einfach schnell was Neues machen. Irgendwie war alles ein bisschen aus den Fugen geraten. Zudem musste jeder seinen Kopf durchsetzen und sein eigenes Ding durchziehen. Es war wohl nicht so eine gute Zeit für Madrugada. Wir wollten, dass «Grit» einfach ein bisschen roher klingt als unser restliches Zeug.
Die Titel der Alben lassen schon ahnen: «Grit» klingt nach etwas rauem, hartem, vielleicht auch oberflächlichem. «The Deep End» klingt eher introvertiert, wie eine Reise zu den tiefen Schichten des Bewusstseins, zur sinnlichen Seite des Hirns. Bin ich da auf dem richtigen Pfad.
Sivert: Ja. Klingt so, als wärst du auf einem der richtigen Pfade (lacht).
Um was für eine sinnliche Reise handelt es sich denn?
Sivert: Es ist dieses sinkende Gefühl, das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.
Robert: Ja, so haben wir uns wahrscheinlich gefühlt, als wir in Berlin waren (beide lachen). Wir sind ein bisschen an unsere Grenzen gegangen…
War es eine wilde Zeit?
Robert: War es, um ehrlich zu sein.
Es ist eine wilde Stadt…
Sivert: Ja, das ist sie.
Robert: «The Deep End» entstand wohl aus dieser Erfahrung. Aber wir versuchen uns nun zusammenzureissen. Und…
Sivert: …nett zu sein (lacht).
Themenwechsel: ich möchte über Madrugada und das weibliche Geschlecht sprechen. Warum zieren immer Frauen eure Covers?
Sivert: It‘s because we like girls.
Robert: Keiner unserer Texte wäre je entstanden, wenn da nicht die Frau wäre.
Sivert: …wenn da nicht die Frau wäre (lacht)! Das klingt fürchterlich! Nun, das war wohl eher ein Zufall, dass eine Frau auf unserem ersten Cover war. Robert und ich liefen durch East Village und sahen ein Gaffitti an der Wand. Ein paar Tage später gingen wir wieder dorthin und machten ein Foto davon, weil wir dachten, es würde sich schön machen auf unserem Album.
Generell würde ich sagen, dass sehr viele eurer Songs Geschichten über Frauen erzählen — manchmal mehr, manchmal weniger offensichtlich. Immer auf eine dunkle, fast erotische Art. Welche Rolle spielen die Frauen bei eurer Musik?
Sivert: Da ist ein sehr starker romantischer Aspekt in unserer Musik — die Kombination von Kunst und guter Rockmusik. Wie bei Buddy Holly. Dieses romantische Element ist es, was uns an Rockmusik so fasziniert. Robert: Da sind immer sehr starke Gefühle im Spiel. Wenn du dich verliebst oder Verlangen spürst oder dich trennst: da sind immer starke Emotionen dabei. Aus diesen Emotionen ist schon ein Haufen guter Musik entstanden. Bei uns ist das genauso, das inspiriert uns.
Einige eurer neuen Lieder erinnern mich wieder an Frauengeschichten. Ich stelle mir bei «Stories From The Streets» vor, wie eine wilde Zigeunerin über die Strasse tanzt. Woher kommen plötzlich diese Latino-Rhythmen?
Sivert: Ja, das ist dieser Flamenco-Beat. Ich weiss eigentlich gar nicht, ob‘s wirklich Flamenco ist — wir kennen uns da nicht so aus. Jedenfalls wollten wir ein paar spanische Elemente in die neuen Lieder einflechten, quasi als Huldigung an unseren spanischen Namen Ich zumindest finde Spanien sehr faszinierend: die Kultur und vor allem die Lyrik. Es war jedenfalls mal schön es zu versuchen und unserem Namen gerecht zu werden.
Auf «Hard To Come Back» gibt es auch ein paar spanische Strophen — wie ist der Text zu diesem Lied entstanden? Ihr singt da von Bars und Alkohol…
Sivert: (zieht die Luft ein) Ooooh…
Robert: Das war damals…Back in Germany (lacht)! Sivert: Es geht ums Trinken…
Robert: …und wie man sich verliert…
Sivert: Ja. Weisst du, manchmal, wenn es dir egal ist, verlierst du den Fokus und fängst an abzurutschen. Im Grunde genommen geht es darum, dass du nach einer Trinkeskapade nicht mehr dieselbe Person bist — es ist immer ein Schritt weiter runter auf der Leiter.
Also eine Referenz an Berlin?
Robert: Nicht konkret an Berlin. Ein Freund von mir ist ein Junkie, auch andere nahe Bekannte haben so ihre Probleme. Wir selbst waren ja auch nicht immer die bravsten Jungs…
Sivert: Manche Leute lassen sich einfach für ein halbes Jahr gehen und das war’s dann. Es ist aber sehr schwierig wieder zurück zu kommen, wenn man sich so gehen lässt.
Ihr habt «The Deep End» in Los Angeles aufgenommen. Madrugada hat ja diesen melancholischskandinavischen Klang. Für die meisten Europäer ist Los Angeles aber fast so etwas wie die Hauptstadt der Oberflächlichkeiten. War es nicht fast ein Schock in L.A. ausgerechnet ein Album über das dunkle Ende der Seele aufzunehmen?
Sivert: Ich glaube L.A. ist ein sehr mystischer, fast schon Angst machender Ort. Im Winter sind da nicht sehr viele Leute auf der Strasse. Diese Stadt hat sehr viele Gesichter und ist auch der Ursprung grossartiger Kunst.
Robert: Sie ist nicht nur oberflächlich. Man meint dies, weil so viel Unterhaltung dort produziert wird. Man darf aber «The Gun Club», «The Doors» und Charles Bukowski nicht vergessen.
Auf dem Weg aus dem Hotel schmeisse ich Wilhelm Tell ein paar Brocken Bitterschokolade ins Wasser, als der Portier gerade nicht hinhört. Wenn er Madrugada schon nicht hören kann, so soll er sie wenigstens mal schmecken können.
Tausend Schichten: «The Deep End»
Madrugada bedeutet Morgendämmerung. Und so hört es sich auch an: Klänge im Niemandsland der Zeit, zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht. Nie einfach, aber auch nie anstrengend. Nach den ersten beiden Alben «Industrial Silence» und «The Nightly Disease» tanzte das dritte, «Grit», ein wenig aus der Reihe. Madrugada war plötzlich dem Garagenrock verfallen — was viele Hörer vor den Kopf gestossen hat. So wartete man drei ungeduldige Jahre lang auf den Nachfolger des Problemkindes und hält nun «The Deep End» in den Händen.
Man darf sich die Schweissperlen von der Stirn wegwischen: Das neue Werk von Madrugada ist kein experimentelles Geplänkel mehr. Die Songs tönen wie reif gepflückt, die Stimme von Sänger Sivert Höyem auch. Vieles findet man auf «The Deep End»: Soul, Rock, Folk, Country und sogar ein bisschen Gospel. Nur noch das wilde «Ramona» erinnert an die «Grit»-Phase. Neu sind die spanischen Einflüsse auf «Stories From The Street» und «Hard To Come Back» — auf letzterem bat man ein paar mexikanische Arbeiter des Studios ans Mikrofon. Angelo Badalamenti, der Hofkomponist von David Lynch, hat dem sphärisch-schönen «Hold On To You» ein bisschen Twin Peaks-Atmosphäre eingehaucht. Der Opener «The Kids On High Street» scheint all die musikalischen Einflüsse Madrugadas in sich zu vereinen: Robert Buras‘ Gitarre singt immer ein bisschen mit, Sivert Höyem‘s Stimme hat natürlich wie immer die Oberhand und Frode Jacobsens Bass mehr Beachtung. Generell wurde auf «The Deep End» mehr am Bass gearbeitet als auf den Alben zuvor. Auch die Balladen, eine Stärke Madrugadas, wurden mit «Sail Away» und «The Lost Gospel» ins Spiel gebracht. Obwohl letzteres ein bisschen wie «Majesty» klingt, der bisher erfolgreichsten Single Madrugadas. Wird aber verziehen. Fazit: tausend Schichten, Tag- und Nachtträume, Aufrüttler und Benebler. Wie die verschiedenen Nuancen einer Farbe: Rot.
Madrugada
«The Deep End»
EMI-Music
Bild: zVg.
ensuite, April 2005