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Blutsbande: Die Schrift gegen den Untergang des Abendlandes

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Das Blut sei kein «beson­der­er Saft» – wenn man Christi­na von Braun glauben will. Ihr 537-seit­iges Werk von 2018 titelt sie trotz­dem «Bluts­bande. Ver­wandtschaft als Kul­turgeschichte». Dies ist gar nicht so para­dox, wie es klingt. Vor allem wenn man unter «Blut» tat­säch­lich NUR den biol­o­gis­chen Saft meint. Dieser ist näm­lich gar nicht beson­ders. Wenn man Christi­na von Braun fol­gt, dann kön­nte man sog­ar behaupten: Blut existiert nicht. Es ist eine Natur­erschei­n­ung wie jede andere, die durch Kul­turtech­niken gemacht, unter­sucht und mit Bedeu­tung aufge­laden wird.

Willkom­men in der span­nen­den, mäan­dern­den, erken­nt­nis- und detail­re­ichen post­struk­tu­ral­is­tis­chen Welt! Tat­säch­lich ist «Blut» nicht ein­fach Biolo­gie, son­dern vielschichtige Meta­pher für ganze Wel­tre­iche. Michel Fou­cault meinte ein­mal vom Blut als «Real­ität mit sym­bol­is­chen Funk­tio­nen» sprechen zu müssen. Blut ist der Stoff, der gle­ichzeit­ig Sig­nifikat als auch sig­nifikant sein kann. Für uns Nor­mal­sterbliche über­set­zt, bedeutet dies, dass Blut real existiert, es fliesst schliesslich in unser aller Adern, doch blau wird es erst metapho­risch. «Blut ist eine Real­ität, und es ste­ht für exis­ten­zielle Real­itäten, die mit Begrif­f­en wie Kör­p­er, Leben, Tod, Gewalt oder Geburt umschrieben wer­den. Wir wis­sen nicht, was Tod oder Leben eigentlich sind, doch wenn wir ver­suchen sie zu umschreiben, lan­den wir schnell beim Begriff des Blutes. Er hat so etwas sym­pa­thisch Hand­festes, während sich Geburt oder Tod unser­er Beschrei­bungs­macht entziehen.»

Es mag an solchen Sätzen liegen, dass Christi­na von Brauns Buch in den Medi­en kaum besprochen wird. Die 75-jährige Kul­tur­wis­senschaft­lerin, ver­wandt mit Wern­her von Braun, dem Raketen­forsch­er, von dem sie 2012 laut Wikipedia mal sagte, dass er «mit den grössten Ver­brech­ern des 20. Jahrhun­derts kol­la­bori­erte», während ihre Gross­mut­ter wegen Wider­stand gegen den Nation­al­sozial­is­mus im Frauenge­fäng­nis Bern­im­strasse ster­ben musste, ist eine der inter­es­san­testen und sper­rig­sten Denkerin­nen der Zeit­geschichte und Kul­tur. Sie hat zig Film­doku­men­ta­tio­nen ver­fasst, über die Geschichte des Anti­semitismus geforscht, ist seit 2008 Vizepräsi­dentin des renom­mierten Goethe-Insti­tuts, Grün­dungsmit­glied der Grü­nen Akademie in der Hein­rich-Böll-Stiftung, Trägerin des Sig­mund-Freud-Kul­tur­preis­es und, und, und, und. Sie gilt als DIE Geschlechter- und Kul­tur­forscherin, hat über Schön­heit, Sex­u­al­ität, die Poli­tik der Mas­chine, Frauen im Islam und über den Preis des Geldes geschrieben. Nun ist also die Ver­wandtschaft dran.

«Bluts­bande» rech­net in einem ersten Kapi­tel mit allen Leitwissenschaften auss­er der Geschlechter­forschung ab. Sie wirft den Natur­wis­senschaften vor, wenig Bere­itschaft zu haben, über ihre eige­nen Par­a­dig­men hin­aus kri­tis­che und nach­haltige Forschung zuzu­lassen. Es gäbe qua­si null Selb­stre­flex­iv­ität an den tech­nis­chen und natur­wis­senschaftlichen Forschungsin­sti­tu­tio­nen. Dies ist ein har­ter Vor­wurf, aber auch aus mein­er Sicht ein sehr berechtigter, da seit Jahren kaum die klüg­sten, son­dern die angepasstesten Köpfe («pub­lish or per­ish») berufen wer­den. Christi­na von Braun geht es aber nicht um diesen neolib­er­al bürokratis­chen Auswahl­prozess und fehlende Chan­cen­gle­ich­heit. Von Braun geht es um die Gen­der­wis­senschaften: die einzi­gen Ansätze, die «die raschen und tief­greifend­en gesellschaftlichen Änderun­gen zu entz­if­fern, deren mentalitäts‑, natur- und geis­teswis­senschaftliche Hin­ter­gründe zu ver­ste­hen» ver­mö­gen.

Deshalb stam­men laut von Braun die schärf­sten Attack­en gegen «Gen­der» auch aus der Ecke der «Fak­ten der Natur». Dies sei völ­lig para­dox. Denn es seien ja die Manip­u­la­tio­nen am men­schlichen Kör­p­er, die alle «Fak­ten der Natur» brüchig machen. Damit stün­den eigentlich die Natur­wis­senschaften an vorder­ster Stelle, wenn es um die Diskus­sion der Wan­del­barkeit des Kör­pers geht: Kein ander­er Forschungszweig hat näm­lich die Biolo­gie so sehr und so sprich­wörtlich auf den Kopf gestellt wie die Natur­wis­senschaften, allen voran die Medi­zin, die Physik und die Chemie. «Die The­olo­gen haben den Geist der Men­schen umge­formt, aber die Biolo­gen haben durch die Repro­duk­tion­s­medi­zin in die Phys­i­olo­gie des Men­schen einge­grif­f­en. (…) Sie selb­st schufen jene flex­i­blen geschlechtlichen Iden­titäten, für die heute die Gen­der Stud­ies ver­ant­wortlich gemacht wer­den», so der span­nende Ansatz von Brauns.

Christi­na von Braun treibt die «Zeichen­haftigkeit der Welt» um, das, was ich 2007 als die «Hor­mon­the­olo­gie» der «Ver­messertech­niker» und «Die Eroberung der Welt als Zahl» genan­nt habe. Anders als Christi­na von Braun ziehe ich jedoch konkrete poli­tis­che Schlüsse, indem ich aufzeige, dass eine gemein­same poli­tis­che Welt, die nur auf abstrak­ter Ver­nun­ft beruht, Men­schen, Tiere, ja die gesamte lebendi­ge, atmende Welt unter eine rigide Zeichen­herrschaft stellt, wie sie in der gesamten Men­schheits­geschichte noch nie so allum­fassend aus­geübt wurde. Bei Christi­na von Braun klingt dies dann eher ver­söhn­lich und kommt als Vertei­di­gung der the­o­retis­chen Kat­e­gorie von Gen­der daher, denn schliesslich ermöglichen nur Zahlen, d. h. die damit ver­bun­de­nen frei han­del­baren Ide­olo­gien, die freie Geschlechter­wahl.

Damit knüpft von Braun bei ihrer Kul­turgeschichte des Geldes an. Sie verortet alle Herrschaft im geschriebe­nen Wort, in den Zeichen, wobei sie den Begriff der dig­i­tal­en Zeichen­dom­i­nanz – so wie ich dies tue – aussen vor lässt und generell vom Schrift­sys­tem spricht. Es geht grund­sät­zlich darum, dass je abstrak­ter Geld ist, also je mehr Geld zum reinen Zeichen mutiert, desto stärk­er die Bindung zwis­chen Zeichen und Leben ist. Zeichen ernähren sich schliesslich von Lebe­we­sen, das ist mein logis­ch­er Schluss, wenn man Christi­na von Braun über viele Seit­en Nach­denken zwis­chen Zeichenset­zung und Bluts­ban­den fol­gt.

Dies ist nicht so neu, wie es scheint. Schon Thomas Hobbes hat in seinem «Leviathan» von 1651 den Geld­kreis­lauf mit dem Blut­skreis­lauf im men­schlichen Kör­p­er ver­glichen. Der britis­che Medi­z­in­his­torik­er Roy Porter, Her­aus­ge­ber und Autor von über 80 Büch­ern, erk­lärt in sein­er grossen Kul­turgeschichte «Flesh in the Age of Rea­son. How the Enlight­en­ment Trans­formed the Way We See Our Bod­ies and Souls» (posthum 2003 erschienen), wie sich alles Leben unter den natur­wis­senschaftlichen und tech­nis­chen Rev­o­lu­tio­nen in eine materiell fix­ierte Dasein­sweise, die den Zeichen der neuen Aufk­lärungswis­senschaft zu fol­gen hat, trans­formierte. Wer den Pro­tokollen real existieren­der Ethik-Kom­mis­sio­nen oder gar den eugenisch verk­lärten Neo­dar­win­is­ten zuhört, erken­nt, wie der wis­senschaftlich-neu­trale Ton schon längst zu einem Herrschaftsin­stru­ment mutiert ist, das aus Men­schen sehr schnell Bat­te­rien für die eigene Ide­olo­gie (Matrix) machen kann.

Wie ste­ht es nun jedoch mit den ganz banalen Blutsver­wandtschaften? Darum soll es ja in Christi­na von Brauns Buch auch gehen. Erste Erken­nt­nis: Es gibt sie nicht, genau­so wenig wie es die Natur und die Kul­tur gibt. Die Unter­schei­dung zwis­chen Natur und Kul­tur sei «Quatsch», so Christi­na von Braun, da es ganz offen­sichtlich sei, dass Kul­tur schon längst imstande sei, «Natur herzustellen», nicht zulet­zt in der Repro­duk­tion. Von Braun begin­nt bei der Vater­schaft als Quelle der Ver­mis­chung von Kör­p­er und Zeichen. Väter waren bis vor ganz kurz­er Zeit nicht nach­weis­bar, Müt­ter schon. Deshalb waren Väter immer auf sym­bol­is­che Herrschaft angewiesen. Deshalb pochen alle patri­ar­chalen Gesellschaften auf «Bluts­bande», denn «sie ver­lei­hen der Vater­lin­ie den Anschein eben jen­er nach­weis­baren Leib­lichkeit, die sie eigentlich ent­behrt». Das Juden­tum set­zte auf die reale Blutsver­wandtschaft, auf die Matri­lin­ear­ität, in der Schriftlehre set­zte es indessen eben­so auf Zeichen wie das Chris­ten­tum.

Von Brauns Leis­tung ist, alle Wel­tre­li­gio­nen als Bild- und Buch­mächte zu dekon­stru­ieren. «Die Schrift führte zur Neugestal­tung der gesproch­enen Sprache‚ ‹nach ihrem Eben­bild›». (S. 101) Für von Braun ist die Schrift Aus­gangspunkt der Geschlechter­rollen und Ver­wand­schaft­skonzepte der Neuzeit. Je strenger die Geset­ze der Schrift herrschen, umso radikaler wer­den Frauen und das Leben ins­ge­samt unter­wor­fen. Denn die Schrift über­dauert jeden Tod, Hun­derte von Gen­er­a­tio­nen und ist auf eine Ewigkeit fest­gelegt, mit der die Wirk­lichkeit und die realen Men­schen nie konkur­ren­zieren kön­nen. Deshalb deprim­iert das Buch «Bluts­bande» über viele Seit­en hin­weg, denn in dem Lichte erscheint der Fem­i­nis­mus, die Befreiung von Frauen und Män­nern nur als weit­ere Ver­sion ein­er äusserst hier­ar­chis­chen, fast unabän­der­lichen Zeichen­macht. Schliesslich hat «Google uns allen schon längst das Alpha­bet gestohlen», wie ich dies ein­mal in ein­er Kolumne for­mulierte.

Im let­zten Kapi­tel zu den «Repro­duk­tion­stech­niken und Geschlechter­rollen» ist Christi­na von Braun jedoch richtigge­hend aufgekratzt. Sie ver­mutet, dass die Welt auf ein soziales Net­zw­erk hinge­ht, eines, in dem die sozialen Ver­wandtschafts­for­men viel wichtiger sind als die realen. Diese Annahme ent­behrt eigentlich der Wirk­lichkeit, wenn wir all die verzweifel­ten Suchen adop­tiert­er Kinder nach ihren «echt­en Eltern» beobacht­en. Christi­na von Braun ist sich indessen ziem­lich sich­er, dass sowohl durch die Glob­al­isierung als auch durch die «neuen Fortpflanzungsarten» auf eine flüs­sige Welt hinge­gan­gen wird und viele flex­i­ble Iden­titäten gener­iert wer­den. «Die Plu­ral­isierung der Ver­wandtschafts­de­f­i­n­i­tio­nen bedeutet nicht Ver­lust von Bindungs­fähigkeit, eben­so wenig wie die Blutsver­wandtschaft diese garantieren kann.» (S. 487)
Ihr Schlussplä­doy­er lautet:

«Die moderne Gesellschaft wird auf sozialen Verwandtschaftsverhältnissen beruhen – oder sie wird nicht sein.»

«Bluts­bande» ist ein gewichtiges, wenn auch streck­en­weise ärg­er­lich­es Werk. Von Braun erzählt zwar von staatlich­er Mach­tausübung durch die Ver­schrif­tung, wid­met indessen den Recht­sak­ten äusserst wenig Aufmerk­samkeit, obwohl sich ger­ade hier die Zeichen äusserst stark man­i­festieren. Der Wille von Frauen zu Frei­heit und Selb­st­bes­tim­mung – wie der Wille einiger Män­ner zu Frei­heit und Selb­st­bes­tim­mung, die «Frei­heit, frei zu sein», wie dies Han­nah Arendt for­mulierte – kommt bei Christi­na von Braun nicht vor. «Emanzi­pa­tion» ist bei ihr das Werkzeug auf dem Weg zur geschlecht­slosen Gesellschaft. Von Frei­heit ist keine Rede, dafür viel von ein­er hergestell­ten Gen­der-Welt, die qua Bio-Kul­turtech­niken wie die Repro­duk­tion­medi­zin, wie die Geschlecht­san­pas­sun­gen, die schöne neue Welt für eine egal­itäre Anthro­polo­gie schaf­fen sollen. Was wiederum eine neue Vari­ante der Herrschaft von Zeichen über Kör­p­er etabliert, doch erstaunlicher­weise scheint dies Christi­na von Braun sel­ber über­haupt nicht aufz­u­fall­en.

Christi­na von Braun, Bluts­bande, Ver­wandtschaft als Kul­turgeschichte, auf­bau, Berlin 2018 ISBN: 978–3‑351–03679‑9

 

 

Dr. phil./Dipl. Coach Reg­u­la Stämpfli ist Poli­tolo­gin und Best­seller­autorin («Die Ver­mes­sung der Frau», «Trump­ism») und schreibt exk­lu­siv für ensuite eigen­willige, poli­tisch ver­sierte Rezen­sio­nen.