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Booktok: Tickst du schon oder liest du noch? Ein Trip in ein reaktionäres Digiland

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli — Die ensuite-Essay­istin ärg­ert sich über die Tik­tok-Wer­bekam­pagne auf SRF und darüber, wie in der Lit­er­atur gegen Müt­ter ständig vom Led­er gezo­gen wird.

Kür­zlich lud der SRF-«Literaturclub» eine Influ­encerin ein. «Warum macht eine Book­tok­erin Schluss mit ihrem Lieblings­buch? Weil sie eine neue Ich-Erzäh­lerin sucht.» Zugegeben, nicht sehr orig­inell, aber einen Ver­such war es wert. Eine Book­tok­erin verkauft Büch­er. Sie gibt vor, sie gele­sen zu haben, und kriegt dafür Fol­low­er, Wer­bung, Gratis­büch­er und Fernse­hauftritte. Die Book­tok­erin bewegt sich als Hash­tag, dieses Raut­en-Schlag­wort, auf der Plat­tform Tik­tok. Bee­in­flus­sung durch die chi­ne­sis­che Staats­führung, Cyber­groom­ing, Cyber­mob­bing und abwe­sender Daten­schutz wer­den der App vorge­wor­fen, inklu­sive präsen­tiert­er Beweise. Doch das Schweiz­er Fernse­hen zeigt sich ungerührt. Twit­ter ist für SRF «bäh», Tik­tok «ahh­hh!». Düm­mer geht’s halt nim­mer. Auf Tik­tok herrscht die Har­monie der Volk­sre­pub­lik Chi­na: Wün­schbares wird gepusht, Uner­wün­scht­es für immer gelöscht. Chi­na wird gelobt, der West­en gemobbt. Suchen Sie doch ein­mal «Tik­tok», «Lab Leak» und «Wuhan» auf Google. Sie find­en lächer­liche 715 000 Posts zu ein­er Pan­demie, die die Welt über zwei Jahre im Griff hat­te und deren Ursprung ein Poli­tikum bleiben sollte. Davon erfahren wir kaum etwas, sind Sie über­rascht? «Heat­ing» heisst diese Manip­u­la­tion bei Tik­tok und ist DAS geniale Designele­ment der App. Geschickt wer­den Codes durch gle­ichzeit­iges händis­ches Manip­ulieren so einge­set­zt, dass nicht ist, was wa(h)r, son­dern nur wa(h)r ist, was sein sollte. Tik­tok zeigt: Dig­i­tales ist nie neu­tral. Deshalb Hände weg von Plat­tfor­men, die von Dik­ta­toren, Autokrat­en und anderen üblen Grup­pen geleit­et, kon­trol­liert und/oder bee­in­flusst wer­den. Als Demokratin plädiere ich nach wie vor für Open Access. Aber SRF set­zt halt auf Tik­tok und durch Algo­rith­men getriebene Trends, liebt alles ehe­ma­lige Tum­blr-anti­nor­male Kul­tur­abge­fuck­te, das mit­tler­weile ja Main­stream ist. So weit, so schlecht.

«Kaf­ka meets Book­tok» als SRF-Wei­h­nachtssendung passte deshalb per­fekt ins codierte Konzept. Die deutsche «Book­tok­erin» Valenti­na Vapaux war zu Gast: ein glob­ales Medi­enkind. Deutsch-Mexikaner­in, Lieblings­getränk Matcha Lat­te, auf Ins­ta 88 900 Fol­low­er, sel­ber fol­gt sie nur 963 – ähn­liche Zahlen auf Book­tok. Valenti­na Vapaux (Jg. 2001) ist laut Wikipedia «‹Spiegel›-Bestsellerautorin, Jour­nal­istin, Con­tent-Cre­atorin und Pod­cas­t­erin». Seit ihrem Aus­tausch­jahr in den USA betreibt sie eigene Medi­en, hat­te schon ein Prak­tikum bei der «New York Times», mod­erierte einen Polit-Pod­cast, ist das Hätschelkind der ÖRR und arbeit­et für den SWR als freie Jour­nal­istin. Und bei mir fra­gen Jour­nis nach, was denn eigentlich mein Beruf sei. SRF hat die Deutsche vor Wei­h­nacht­en ein­ge­laden, und was bringt die junge Frau mit? Natür­lich ein bös­es Mut­ter­buch mit noch böser­er sex­ueller Gewalt von und gegen Kinder. Im Buch kom­men vor: «sechs Mäd­chen, eines davon männlichen Geschlechts» – ohne Scheiss, so redet Deutsch­land­funk Kul­tur, der sich übri­gens nur noch auf Tik­tok und Face­book bewegt, weil X – die Plat­tform von Twit­ter – eine «ungute Entwick­lung» durch­mache. Das Buch «Wir, wir, wir» heisst im Orig­i­nal «Brutes» und bringt so völ­lig uniro­nis­che Sätze wie «To be loved was just to be watched, or in my case, to imag­ine you are loved is to imag­ine you are watched all the time» – «Geliebt zu wer­den kommt gese­hen zu wer­den gle­ich, oder in meinem Fall, sich vorzustellen, dass man geliebt wird, wenn man ständig gese­hen wird».

Gewalt und extreme Müt­ter­feindlichkeit charak­ter­isieren das Werk. Es ist also eine Art «Fight Club auf weib­lich»: «And we knew our moth­ers’ idea of good­ness was not mea­sured by morals but by how much noise we made.» Zum Abwinken öde. Mut­ter­hass. Ein Trend, der sich seit Jack Ker­ouacs Bibel gross­er Pop­u­lar­ität erfreut. Wo Macht und Ruhm existieren, zele­bri­eren alte Män­ner und junge Frauen ihren Sieg über die Müt­ter, die sie unter Schmerzen 40 Wochen lang getra­gen und dann unter noch mehr Schmerzen geboren haben. Eine glück­liche Welt ist eine der glück­lichen Müt­ter – eine Utopie, die längst geschrieben wer­den sollte.

Zeit­genös­sisch find­et das Gegen­teil statt: Müt­ter sind Abfall­ware und wer­den – wie bei Jan Böh­mer­mann im ZDF – auf dem Scheis­shaufen entsorgt. Müt­ter gibt es nicht mal mehr als Wort – danke, Uni­ver­sität Basel, für NICHTS. Schaut mal in den Leit­faden für inklu­sive Sprache! Müt­ter waren dem Patri­ar­chat schon immer sus­pekt; vor allem wenn sie sich emanzip­ierten und ihre Kinder gle­ich mit. Den Pro­gres­siv­en standen Müt­ter auch im Weg: Denn sie wider­set­zen sich regelmäs­sig dem pornografis­chen und sex­uell promiskuitiv­en Pro­gramm, gerne auch anzuwen­den bei Min­der­jähri­gen. «Frage: Was ist das Schlimm­ste an der Verge­wal­ti­gung eines Kindes? Antwort: Das Mäd­chen danach töten zu müssen.» Dies war der gängige Ton in der Noise-Rock-Punk-Szene – und bleibt es bis heute, Stich­wort Ramm­stein. Der Witz übri­gens ist zitiert nach dem grossar­ti­gen Werk «Sex Revolts. Gen­der, Rock und Rebel­lion». Ein Buch, das sich auch für Müt­ter stark­macht, und zwar für Müt­ter über­all.

In einem anderen, von der Book­tok­erin eben­falls auf SRF bewor­be­nen Werk – «Cleopa­tra und Franken­stein» – geht es um eine klas­sis­che «Com­ing of Age»-Liebesgeschichte. Natür­lich um eine junge Frau mit einem älteren Mann. Die Geschichte ent­pup­pt sich als zeit­genös­sis­ches Märchen von Blaubart, Groom­ing, Verge­wal­ti­gung, Gaslight­ing etc. Der Roman ist span­nen­der und strin­gen­ter als «Wir, wir, wir», doch im Kern eben­so reak­tionär.

Nichts Neues, nur: Weshalb wird dies nicht the­ma­tisiert? Schon bei Sal­ly Rooney fehlte der fem­i­nis­tis­che Blick. Rooney gilt als Stimme der Mil­len­ni­als, so wie Vapaux für die Gen­er­a­tion Z – offen­sichtlich haben die Medi­en nur Platz für eine Frauen­stimme der jew­eili­gen Gen­er­a­tion. Egal. Rooneys «Gespräche mit Fre­un­den» oder «Nor­male Men­schen» beruhigten die Boomer-Gen­er­a­tion darin, dass sich punk­to Frau und Mann nichts verän­dert hat, lediglich der Ton und der Grad an fort­geschrit­ten­er Pornografie. Auch das Prinzessin­nen-Schema spielte Rooney weit­er in «Nor­male Men­schen». Hier ein Zück­erchen: «Kannst du mich schla­gen?, fragt sie. Ein paar Sekun­den lang hört sie seinen Atem. Nein, sagt er. Ich glaube nicht, dass ich das möchte. Tut mir leid. Sie sagt nichts. Ist das in Ord­nung?, fragt er. Sie sagt immer noch nichts. Willst du aufhören?, fragt er. Sie nickt. Sie spürt, wie sich sein Gewicht von ihr hebt.» «Die Peitsche, die Peitsche bitte!» aus «50 Shades of Grey» wird hier lit­er­arisch über­höht und ist, ganz ehrlich, zum Abkotzen öde. Vor allem angesichts der grassieren­den sex­uellen Gewalt, die zuerst im Kopf (Lit­er­atur) und in der Dig­i­tal­ität begin­nt, sich früher oder später auch in der Wirk­lichkeit den Weg bah­nt. Die Unter­w­er­fungslust junger Frauen ist in der Lit­er­atur über die Jahrhun­derte hin­weg tausend­fach bespielt. Schon die Sagen des griechis­chen Alter­tums waren voller der­ar­tiger Geschicht­en: Statt Medi­en­man­ag­er, Recht­san­wälte oder Mil­lionärssöhne spie­len dort die Göt­ter «IHN». In «Die Pod­castin» erzäh­le ich deshalb vom «Dra­ma der het­ero­sex­uellen Frau». Alte Män­ner tre­f­fen auf vater­lose Mäd­chen, die ihre Müt­ter dafür ver­acht­en, dass sie sie nicht, so wie der Erzeuger, liegen­ge­lassen, son­dern sich um sie geküm­mert haben. Deshalb: Dürfte ich mal andere Sto­rys lesen, bitte? Wenn ich kön­nte, ich würde sie sel­ber schreiben – doch sog­ar Chat­G­PT liess mich bei dieser Frage im Stich. Durchs Band lese ich stattdessen unkri­tis­che Rezep­tio­nen solch­er old­school «Beau­ty and the Beast»-Varianten. Vari­anten, die den weib­lichen Opfermythos darüber hin­aus auch noch als «sex­pos­i­tiv» ver­mark­ten.

Faz­it meines Aus­flugs in die weib­liche Gen­er­a­tion-Z-Welt von #Book­tok: Die dig­i­tal­en Jungfleisch-Kon­sum­codes, vom Olymp in die Gosse post­mod­ern­er Banal­ität herun­tergekom­men, sind bösar­tig, mächtig und kreativ. Links von Tum­blr stam­mend, nazirechts bei den 4Chans, tram­peln soziale und analoge Medi­en auf allem herum, was für Frauen, Fem­i­nis­mus, Demokratie, funk­tion­ierende Öffentlichkeit­en sowie respek­tvollen Umgang miteinan­der notwendig ist. Soziale Medi­en sind der Nährbo­den für nihilis­tis­che Ego-Shoot­er-Trips in unterirdis­ch­er Vielfalt. Stars in Zeit­en codiert­er Nar­ra­tive fühlen nur noch, was ist, und erfind­en sich gle­ichzeit­ig immer wieder neu.

Anstren­gend.

Deshalb: Weg mit diesen düsteren Satiren zum linken und recht­en Pro­to­to­tal­i­taris­mus, der angesichts der Kriege bald ohne «pro­to» auskom­men wird. Wie war das nochmals mit dem Rechtsstaat? Richtig. Tik­tok ver­bi­eten, why not. Telegram kann grad mit, okay? Oder das Daten­schutzrecht der EU durch­set­zen. Oder «kein Recht auf Dat­en ohne poli­tis­che Mitbes­tim­mung» – wie es in unseren Ver­fas­sun­gen the­o­retisch fest­gelegt ist – imple­men­tieren. Easy, mach­bar und voll legit­im.

Und in Rich­tung SRF bin ich völ­lig radikal: Was wäre, wenn endlich mal wieder Büch­er und Autorin­nen besprochen wür­den, statt sich sel­ber zu insze­nieren?

 

Die Top-Ten-Büch­er, um Müt­ter anders zu (be)schreiben:

Chi­ma­man­da Ngozi Adichie, Amer­i­canah.
Ori­ana Fal­laci, Brief an ein nie geborenes Kind.
Wolf Haas, Eigen­tum.
Peter Hoeg, Der Susan-Effekt.
Luise F. Pusch, Müt­ter berühmter Män­ner.
Mary Woll­stonecraft, Das Unrecht an Frauen oder Maria (The Wrongs of Women or Maria).
Reg­u­la Stämpfli, Lieber ich als per­fekt.
Hed­wig Dohm, Die Müt­ter.
Salman Rushdie, Vic­to­ry City.
Christi­na von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kul­turgeschichte.

Artikel online veröffentlicht: 9. März 2024