Von Anna Vogelsang - So viele bettelnde und verlorene Seelen habe ich zum letzten Mal Mitte der 90er-Jahre auf den Strassen meines geliebten St. Petersburg gesehen. Doch ich bin im Heute und Jetzt, in der Stadt des EU-Parlaments, des NATO-Hauptquartiers und des weltweit erfolgreichen Kunsthandels. Wegen Letzterem bin ich hier. Auf dem zweitägigen Programm steht der Besuch von circa dreissig Galerien, von einem Theater und sechs privaten Häusern von Kunstsammlern und Händlern. Und wieder – wegen Letzteren bin ich hier. Erwarten mich sterile, von Interior-Designern durchgestylte Räume oder ein Sammelsurium von Sammlersüchtigen, deren Häuser eher an eine etwas kostspielige, doch überladene Brockenstube erinnern? Fehlanzeige in jeder Hinsicht.
Eine der Stationen liegt eine fast halbstündige Fahrt ausserhalb von Brüssel. Inmitten der Felder, auf denen sich graubraune Berge von Rüben türmen, versteckt hinter den Bäumen, finden wir ein Landhaus aus rotem Backstein. Entree und Wohnräume sind modern, lichtdurchflutet, die Einrichtung aufs Wesentliche reduziert. Nur ein paar Objekte – da eine Mid-Century-Lampe, da ein Stuhl aus einer anderen Epoche – geben ein Wink, dass in diesem Haus nicht Mode und Bequemlichkeit regieren. Dann, in einem halbrunden Zimmer im Parterre, zeigt der stolze Besitzer die Ergebnisse seiner über dreissigjährigen Sammeltätigkeit: Wir sind in der Porfirius Kunstkammer. Entlang der Wände ziehen sich von unten bis oben rotbraune Holzregale, auf denen sich die Objekte aus unterschiedlichen Epochen und Ländern befinden. Auf Anfrage, wie viel wohl die Exponate kosten, antwortet der Gründer der Sammlung, der promovierte Ingenieur Alex Van den Bossche, ohne falsche Bescheidenheit, dass er manche Stücke für weniger als 80 Euro auf einem Flohmarkt erstanden habe, andere hingegen um eine Million kosten würden. Die grundlegende Idee jeder Kunstkammer ist es, ein Bild des gesamten bekannten Universums wiederzugeben, eine Art Enzyklopädie, die sowohl intellektuelle wie künstlerische Werke der Menschheit vereint. Die Porfirius Kunstkammer lässt sich in vier Gruppen unterteilen: Preciosia, Naturalia, Scientifica und Exotica; sie ist dadurch an die Kunstkammern der Spätrenaissance oder des Barocks angelegt. Die damalige Kunstkammern oder Kuriositätenkabinette, wie sie auch genannt wurden, waren die Vorläufer der heutigen Museen.
Ich stand in dieser Sammlung und haderte mit meiner eigenen Vorstellung davon, was in eine private oder eine staatliche museale Sammlung gehört. Noch frisch im Gedächtnis war mir das Beispiel der verlorenen Schätze des Museu Nacional da Universidade Federal do Rio de Janeiro. Das zweihundertjährige Museum brannte am zweiten September 2018 komplett aus. An diesem Ort unterschrieb am zweiten September 1822 die in Wien geborene brasilianische Regentin Leopoldine von Habsburg die Unabhängigkeitserklärung Brasiliens. Nun ist eine der grössten naturhistorischen und anthropologischen Sammlungen der Welt und die grösste Lateinamerikas verschwunden – 20 Mio. Exponate, darunter Objekte nicht mehr existierender indigener Kulturen. Einzig der grösste Meteorit Brasiliens, «Bendego», hat den Brand überstanden. Ein Teil der Bevölkerung meinte, dass damit Brasilien selbst sein Gedächtnis verloren habe. Andere sahen es als Sinnbild der Neuschreibung der Nationalgeschichte. Die Diskussion darüber, wer was – und wie – über die Geschichte des Landes zu schreiben hat, war symptomatisch für die tief gespaltene Nation. Umso interessanter ist auch die Tatsache, wie die Kulturgüter und deren Funktion im politischen Kontext eingesetzt werden.
Der Gesetzesrahmen für den Kunsthandel in Belgien ist nicht der gleiche wie in der Schweiz. Daraus und aus historischen Gegebenheiten (aus der Kolonialgeschichte des Landes) ist auch ganz anderer Umgang mit den Kunstobjekten und Artefakten entstanden. Im Stadtviertel Sablon befinden sich gleich mehrere Galerien, die mit wertvollen Kunstobjekten aus der Antike, dem kaiserlichen China oder aus Afrika handeln. Eigentlich mit allem, was wir eher in einer Museumsvitrine erwarten. Doch das tragische Ereignis im Nationalmuseum in Rio de Janeiro, wo die Behörden auf allen Ebenen komplett versagten, bringt auch die Gedanken punkto privater Sammlungen in eine neue Richtung.
Als purer Kontrast erwies sich der Besuch beim Gründer der Galerie Rodolphe Janssen. Vor ungefähr zehn Jahren kaufte die Familie Janssen das Gebäude mitten in Brüssel einem Familienunternehmen ab. Früher befand sich in diesen Hallen ein Bestattungsunternehmen. Nach dem Umbau und der Umgestaltung des Grundrisses fühlt man sich in diesem an moderne Lofts erinnernden Haus ganz wunderbar – das Morbide ist verschwunden – fast: Von einem Vintage-Sideboard aus grinsen zwei Schädel die Besucher an. Wo früher Särge und Urnen thronten, schweben nun Designer-Lampen und gemütliche Sofas, wo früher die Grabkränze und Rahmenmuster angebracht waren, hängen jetzt Werke der zeitgenössischen Kunst. Der Humor des neuen Besitzers zeigt sich in der Tatsache, dass über dem Eingangstor zum Innenhof immer noch das alte Firmenschild hängt – «Pompes Funèbres». Im ganzen Haus ist moderne Kunst aus Belgien, Deutschland und Amerika verstreut, wobei die Bilder von Jahr zu Jahr gewechselt werden, je nach Neuanschaffungen in der Galerie und Neuentdeckungen während der Reisen quer durch die Welt. Die zweite Leidenschaft der Familie Janssen ist Design. Vor allem die Entwürfe der belgischen Designer, aber auch der französischen, findet man im Haus, zum Beispiel Tische von Ado Chale oder Jules Wabbes.
Und dann war noch die Visite bei der kürzlich eröffneten Foundation Frison Horta an der Rue Lebeau, im Haus des Architekten Victor Horta, das er für seinen Freund Maurice Frison entworfen hatte. Horta ist für Belgien das, was Antoni Gaudí für Spanien und Hector Guimard für Frankreich sind. Mit der Realisierung des Hôtel Tassel 1893 läutete er die Art nouveau – zu Deutsch Jugendstil – ein. Zuerst aber eine Frage: Was ist gute Architektur? Kürzlich äusserte sich dazu Benjamín Romano, der mexikanische Architekt, der in diesem Jahr den internationalen Hochhaus-Preis für den Torre Reforma in Mexico-City gewonnen hat: «Architektur hat nichts mit Kunst zu tun. Es geht auch nicht um Inspiration. Es geht darum, den Kontext zu verstehen, den Plan richtig zu lesen, die Dinge im richtigen Flow zu begreifen und sie entsprechend zu interpretieren. Das ist für mich Architektur. Es ist keine Inspiration, es ist Technik.» (ZDF, «Aspekte» vom 16.11.2018)
In Hortas Haus fühlt sich diese Aussage falsch an: Hier geht es zwar um den Flow, doch dieser wird nicht durch Technik und Pragmatismus verwirklicht. Über zwanzig Jahre war das Haus unbewohnt, es wurde jetzt zum ersten Mal seit seiner Fertigstellung 1894 fürs Publikum geöffnet. Zuletzt gehörte es einem dänischen Ehepaar. Nach dem Tod des Mannes verkaufte die Witwe das Haus und damit wurde das neue Kapitel eingeläutet. Nachdem die Räume vom Gerümpel befreit worden waren – dafür brauchte man sieben Lastwagen –, stellte sich die Frage, wie man dieses Haus wiederbeleben könnte. Bis jetzt hat die neue Besitzerin keine Baudokumentation und keine historischen Fotos gefunden. Schritt für Schritt wurde dann entdeckt, was sich unter dem dicken weissen Farbanstrich in all den Räumen des Gebäudes, das durch eine geschwungene Treppe in sieben Stöcke unterteilt ist, jahrzehntelang verborgen hatte. Alle Räume wurden von unten bis oben mit einem floralen Muster geschmückt: Nicht Weiss, sondern warme Pastelltöne und kräftiges Ocker und Rot belebten die Wände. Heute sind hier und da Fragmente freigelegt worden. Einige Deckenstuckaturen und der Wintergarten sind schon jetzt rekonstruiert. Doch das ist nur ein Anfang. Die Möbel im Haus stammen zum Teil noch von der ursprünglichen Einrichtung oder wurden stilgetreu neu erworben. Es ist ein Projekt für Jahrzehnte, das ganze Haus so zu rekonstruieren, wie es nach seiner Erbauung war. Und ja – dies ist sehr, sehr teuer. Schon der Kauf der Immobilie war ein Millionengeschäft. Heute ist das kaum vorstellbar, aber Mitte des 20. Jahrhunderts wurden solche Immobilien zum Bodenpreis verkauft, mit der Annahme, dass Häuser für Neubauten plattgemacht werden. Dem Haus von Victor Horta blieb dieses Schicksal erspart. Doch es war durchaus möglich, dass neue Besitzer ein Haus zwar nach den Vorschriften des Denkmalschutzes renovieren, ohne jedoch eine komplette Restauration der Stuckaturen, Mosaikböden und Möbel vorzunehmen. Hortas Haus befindet sich in einer Phase der Auferstehung und es ist auch ein Glücksfall, dass das Haus zwar privat bewohnt, aber zugleich eine öffentlich zugängliche Foundation ist: Es sind auch regelmässige Themenausstellungen, Konzerte und Lesungen geplant.
Auf dem Weg zurück in die Schweiz kam mir eine Diskussion von der letzten Art Genève wieder in den Sinn. Ein Kunstliebhaber meinte restriktiv, dass die Designausstellung PAD nichts an einer Kunstmesse verloren hat. Ich war damals und bin heute immer noch anderer Meinung. Wie soll das Publikum Bilder im Kontext des Alltags schätzen und wahrnehmen lernen, wenn wir uns die Bilder nur in Museen oder sterilen Galerien ansehen? Das gute Gespür, ein Händchen fürs Gesamtkonzept «Lebensraum» kann entweder durch das Mentoring oder jahrelange Auseinandersetzung mit der Materie erlangt werden. Die Kunst verliert nicht, wenn sie in ein Wohnkontext eingebunden wird, ganz im Gegenteil. Das Konzept der Foundation Frison Horta ist natürlich eine extreme Art dieses Lebensstils, wo es sich nicht um eine Renovation, sondern um eine Restauration handelt, und wo das Ganze dem Geiste des Hauses unterworfen wird. Das können sich wirklich nur wenige leisten. Aber die Häuser der belgischen Sammler, Galeristen und Kunstliebhaber zeigten eindrücklich, dass wir auch mit wenigen Handgriffen und mit den uns allen zugänglichen Möglichkeiten unser Zuhause in eine poetische, inspirierende Oase verwandeln können. Man braucht Mut, Experimentierfreudigkeit, Geduld und natürlich ein bisschen Glück. Manche Trouvaillen kosten tatsächlich nur ein paar Franken. Und man muss sie natürlich suchen, so wie ein Galerist aus Brüssel, der während zehn Jahren einem bestimmten Sideboard «nachgejagt» war, oder ein Bewohner der Galeries Royales Saint-Hubert (in den oberen Stöcken des Warenhauses befinden sich einige Dutzend Privatwohnungen), der wiederum mehrere Jahre auf einen Transport einer in der Türkei erworbenen Truhe warten musste … Darüber aber ein anderes Mal, vielleicht nach der Januarreise an die BRAFA.
P.S.: Alle in diesem Artikel beschriebenen belgischen Galerien sind an der diesjährigen BRAFA Art Fair vertreten. Die BRAFA zählt zu den fünf weltweit führenden Kunst- und Antiquitätenmessen. An der Messe nehmen 133 Galerien aus 16 Ländern teil, darunter acht aus der Schweiz (siehe unten). 100 Experten aus der ganzen Welt begutachten die Authentizität, Qualität und den Zustand der ausgestellten Objekte. Insgesamt 10 000 bis 15 000 Objekte, die in 20 Spezialgebiete aufgeteilt sind, finden ihren Weg in die Ausstellung. Die letztjährige Ausgabe der Messe verzeichnete mehr als 65 000 Besucher.
Infos zu den Institutionen im Artikel:
www.foundation-frison-horta.be
www.porfirius.squarespace.com
www.rodolphejanssen.com
64. BRAFA Art Fair 2019
26.1. – 3.2.2019
Tour & Taxis, Brüssel
www.brafa.art
Galerien aus der Schweiz an BRAFA 2019:
Bailly Galerie Genf – www.baillygallery.com
Cortesi Gallery Lugano – www.cortesigallery.com
Galerie Grand-Rue. Rondeau, Genf – www.galerie-grand-rue.ch
Galerie Schifferli, Genf – www.galerie-schifferli.ch
Galerie Von Vertes, Zürich – www.vonvertes.com
Opera Galerie, Genf – www.operagallery.com
Phoenix Ancient Art, Genf – www.phoenixancientart.com
Simon Studer Art Associés, Genf – www.simonstuderart.ch