Von Fabienne Naegeli – Mit «Die ganze Nacht nicht» zieht sich die Compagnie Majacc ins Private zurück: Amoklauf im Klassenzimmer. Schläger von München. Gruppenvergewaltigung – Jugendliche Sexualstraftäter verhaftet. Die Jugendkriminalität ist in den letzten Jahren laut Statistik stark angestiegen. Berichte über gewalttätige Jugendliche reissen in den Medien nicht ab. Die Hintergründe der Taten bleiben oft im Dunkeln. Es tauchen Fragen und Spekulationen auf, die versuchen, das Unerklärliche zu erklären. Wer ist schuld? Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Was macht Jugendliche zu Tätern? Wer hat wann, wie und warum versagt? Wer sind die Eltern? Sind zu viele erzieherische Freiheiten, schwierige familiäre Verhältnisse oder andere soziale Probleme die Gründe? Ist eine verfehlte Ausländerpolitik, der Konsum gewaltverherrlichender Computerspiele oder die Flut an pornographischen Bildern im Internet die Ursache? Was hätte die Schule oder die Jugendsozialarbeit, die Politik oder die Gesellschaft präventiv dagegen unternehmen können? Gerne wird dabei auf Klischees zurückgegriffen: Die Eltern sind geschieden, arbeitslos, drogensüchtig, alkoholabhängig oder selber gewalttätig, die jugendlichen Täter haben ausländische Wurzeln oder bereits eine lange Heimkarriere hinter sich. Doch was ist, wenn keine dieser Erklärungen greift und ganz «normale» Verhältnisse vorherrschen. In «Die ganze Nacht nicht» setzt sich die Compagnie Majacc mit solch einem «normalen», gutbürgerlichen Elternhaus auseinander, das plötzlich mit der erschütternden Frage konfrontiert wird, ob ihr Sohn bei einer Gruppenvergewaltigung eines Mädchens beteiligt war.
Wie jeden Abend kommen Helga und Martin von ihrer Arbeit nach Hause und treffen in ihrer Küche aufeinander. Martin bereitet ein Fondue vor, denn die Wertmüllers, ein befreundetes Ehepaar, kommen zu Besuch. Er ist ein wenig gestresst, da er nicht weiss, ob Julian, Helgas 17-jähriger Sohn, mitisst und wie viele Baguettes er daher aufschneiden und welche Menge Käse er anrühren muss. Helga schenkt ihm allerdings keine grosse Aufmerksamkeit. Sie ist am Telefon beschäftigt mit der Organisation der nächsten Einladung, nervt sich, weil Martin den Gärtner noch nicht angerufen hat, will eigentlich vor dem Abendessen noch schnell duschen und macht sich Sorgen wegen ihres Jobs. Die kleinen, alltäglich banalen Auseinandersetzungen des Paares treten jedoch bald in den Hintergrund. Immer wichtiger wird die Abwesenheit Julians. Mit wem und wo treibt er sich wohl herum? Vielleicht mit dem Albaner Mirko oder mit Nikola, dessen Zuhause keine Struktur hat und völlig unkontrolliert ist? Schliesslich gesteht Helga, dass sie nicht weiss, wo ihr Sohn Dienstagnacht war, als eine Gruppe Jugendlicher ein Mädchen vergewaltigt hat. War Julian möglicherweise einer der Täter? Hat sie sich zu wenig um ihn gekümmert? Weshalb hat sie ihrem Mann bis jetzt nichts davon gesagt? Und warum war Martin an diesem Abend eigentlich so lange weg? Unter dem Verdacht des Gewaltverbrechens verändert sich die lange, scheinbar solide Partnerschaft auf einen Schlag. Alles bricht auf. Man macht sich gegenseitig Vorwürfe und beginnt, immer tiefer in der schon länger aus dem Lot geratenen Beziehung zu graben.
Nach dem letztjährigen Stück «Frontex» über Migration und lebensgefährliche Grenzübertritte befasst sich die 2005 von Roger Binggeli Bernhard gegründete Compagnie Majacc in «Die ganze Nacht nicht» mit dem Zusammenhang von elterlicher Beziehung und Jugendgewalt. Wie kann eine unaufrichtige, nur vordergründig dahingelebte Partnerschaft ein Kind beeinflussen? Was, wenn alles nur noch ein gemütliches, zufriedenes Einerlei ist, wenn das Liebesglück abhandenkam und man sich nicht mehr spürt? Die Compagnie Majacc lässt in «Die ganze Nacht nicht» die häusliche Fassade bröckeln und bringt so ein Stück Leben mit seinen tiefen menschlichen Abgründen auf die Bühne, die ursprünglich gar keine Bühne war, sondern ein reale Wohnküche.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2010