Von Meredith Fischer — Anna Röthlisberger Co. etabliert als professionelle, zeitgenössische Kompanie integrativen Tanz als Kunstform in der Schweiz: Im Vorfeld der Premiere ihres neuen Stückes «BRAIN GAME» berichtet die Choreographin Anna Röthlisberger über die Hintergründe ihrer Arbeit. Für ihre Kreationen sucht sie Personen aus, die durch ihre Einmaligkeiten aussergewöhnliche Konstellationen bilden. Dabei geht es um die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und nicht um die Integration für Behinderte. Röthlisberger pflegt einen regen Austausch mit international tätigen Kompanien, insbesondere mit denjenigen, die sich in der Arbeit mit behinderten KünstlerInnen professionell etabliert haben. Dies ermöglicht ihr, Talente neu zu entdecken und in Zusammenarbeit mit der Schweiz in ihren Produktionen zu fördern. Wichtige Voraussetzung ist dabei, dass die TänzerInnen im Hinblick auf Bühnenerfahrung, tänzerische Technik, Disziplin und vor allem in ihrer Expressivität viel Potenzial aufweisen. Damit etabliert Anna Röthlisberger als Erste in der Schweiz eine Kompanie, die mit professionellen TänzerInnen mit und ohne Behinderung arbeitet.
Im Gegensatz zum klassischen Ballett, in dem die Charakteristiken der möglichst ähnlich aussehenden TänzerInnen wegtrainiert werden, wird hier eine Einheit gebildet, die aus eigenständigen Persönlichkeiten unterschiedlichster geographischer und künstlerischer Kulturen stammen. Die jeweiligen Eigenheiten dienen als Arbeitsfeld und Inspiration und werden tendenziell eher hervorgehoben als kaschiert. Die Tanzpublizistin Esther Sutter schreibt dazu: «Der Recherchearbeit verpflichtet, öffnet sie den Tanz für ganz verschiedene Sparten und Blickwinkel. Mit ihren ausgeklügelten Konzepten für Improvisation beherrscht die junge Choreografin ein Instrument, das sie in hohem Masse zur Zusammenarbeit mit behinderten Menschen befähigt: Tanz ist nicht nur körperliche Perfektion und technisches Können, auch die Seele kann tanzen, und dies auf ganz unterschiedliche Art bei Anna Röthlisberger.»
«Mit viel Humor gelingt es ihnen Grenzen so weit aufzulösen, bis ihre körperlichen oder geistigen Eigenheiten im tänzerischen Dialog zum selbstverständlichen Teil ihrer Bühnenrollen werden. Die Frage, was normal und was besonders ist, wird überflüssig.» (Sylvia Mutti)
«BRAIN GAME» spannende Bewegungsformen Die unterschiedlichen Bewegungsmöglichkeiten und visuellen Erscheinungen der vier TänzerInnen in der neuen Produktion «BRAIN GAME» bieten Anna Röthlisberger ein neues, herausforderndes, choreographisches Spielfeld. Mit James O’Shea konnte sie einen erfahrenen Tänzer der etablierten Company Candoco aus London engagieren. Die Truppe zählt zweifelsfrei zu den namhaftesten Tanzkompanien im Bereich Bühnentanz und Behinderung. Als Folge eines schweren Unfalls hat der hochkarätige Tänzer keine Beine mehr. Er besitzt aber durch die Schulung in professionellem modernen Tanz ausserordentliche Fähigkeiten, auch ohne Rollstuhl zu gehen, zu springen und zu drehen. Er wirft sich in Posen, die andere TänzerInnen gar nicht vollbringen können.
Die Brasilianerin Silvia Wolff, welche nach einer langjährigen Karriere in New York (u.a. Second Avenue Dance Company) als professionelle klassische und moderne Tänzerin durch einen Hirnschlag halbseitig gelähmt ist, strahlt dagegen eine fragile Transparenz aus. Ihr heutiges tänzerisches Repertoire liegt in der Kraft eines Armes und eines Beines.
Mit Sylvia Rijmer aus Holland (u.a. Drift, Stadttheater Bern und Ballet Gulbenkian) steht eine sehr kreative und technisch extrem vielseitige Tänzerin mit auf derselben Bühne. Der Fokus in der Arbeit liegt hier in den Differenzierungen von Bewegungs- und Darstellungsqualitäten, bei denen die Perfektion als Fragezeichen im Raum steht.
Die in Seoul geborene Halbchinesin Rebecca Weingartner bringt jugendliche Frische in das Ensemble. Nicht die Abgeklärtheit eines langjährigen Bühnenprofis, sondern der Entdeckungsgeist einer Bewegungsforscherin bereichert die Truppe wiederum auf ganz eigentümliche Weise.
Mit Klaus Jensen (Szenische Regie), Marc Rossier (Live-Musik), Brigitte Dubach (Licht), Christina Müller (Kostüme) hat sich die Choreographin auch neben der Bühne mit kreativen und stilsicheren KünstlerInnen umgeben, die ebenso mit persönlicher Handschrift agieren wie die TänzerInnen.
Dass Anna Röthlisberger es versteht, solch unterschiedliche Persönlichkeiten zu einem stimmigen Ganzen zusammenzubringen, beweist der Erfolg ihrer letzten Kreation «PEZ Y PESCADO». Nach Auftritten in Spanien geht die Kompanie im Rahmen von Steps#12 (22. Aprilbis 13. Mai 2010) erneut mit ihrer Pionierarbeit auf Schweizer Tournee.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2010