Von Luca Zacchei — Die Bürokratie ist eine leidige Sache. Mal Hand aufs Herz: Wer gibt schon gerne Adress- und Zivilstandsänderungen an Ämter und Unter-Ämter bekannt und kämpft sich durch dreisprachige Formulare? Obwohl die italienische Bürokratie mit nur einer Sprache auskommt, ist sie noch undurchsichtiger und verzwickter als die helvetische. Wer die burocrazia italiana persönlich erleben möchte, braucht nicht so weit zu reisen. In Bern gibt es eine kleine Oase der Unordnung und des Chaos, einen Hauch von Italien: die Rede ist vom Consolato Italiano.
Vor unseren Familienreisen hat Papà die Pässe jeweils sicherheitshalber kontrolliert. Wenn er feststellte, dass sie abgelaufen waren, setzte er sein Begräbnis-Gesicht auf und schleppte sich Richtung italienisches Konsulat, wohl wissend, dass es eine zeitaufwändige Angelegenheit werden würde. Als Kind habe ich ihn jeweils begleitet. Consolato heisst auf Italienisch auch «getröstet». Und Trost war vor diesem Bittgang wirklich notwendig. Den haben wir jeweils von meiner Mutter erhalten, die uns vom Fenster aus aufmunternd zuwinkte. Wenn sich Dante Alighieri heute eine Hölle ausdenken würde, dann würde diese einem italienischen Konsulat sehr ähneln: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! Die lamentierende Meute war bereits vor dem Eingang hörbar. Samstagmorgens war das Seufzen und Jammern besonders laut, weil die armen Seelen vor dem Haupttor zahlreich waren. Beim Eintreten in den infernalischen Irrgarten mussten wir zunächst das Glück haben, die richtige Menschenschlange zu erwischen, nämlich diejenige für die Passverlängerungen. Wir kamen nur schrittweise voran. Nach einer halbstündigen Reise, in welcher wir lediglich fünf Meter Distanz bezwungen hatten, begrüsste uns nuschelnd ein italienischer Staatsfunktionär: «Passverlängerungen? Nein, Sie müssen die Schlange nehmen, welche dort anfängt und spiralförmig in den oberen Stock führt, ins Zimmer 32.» Die Karawane zog weiter zum nächsten Höllenkreis. Einige Weggefährten gaben unterwegs verzweifelt auf. Im Zimmer 32 angelangt, erwiderte die rauchende Beamtin: «Signore, Ihre Adresse ist nicht mehr aktuell. Sie müssen ins Zimmer 17 gehen, zu den für die sachgemässe Führung des Personenstandsregisters zuständigen Kollegen. Erst anschliessend können Sie die Verlängerung beantragen.» Papà war auf diesen läuternden Reisen hartnäckig und geduldig. Auf der Zielgerade überraschte uns aber die folgende Aussage: «Die Passfotos der Kinder sind nicht mit den aktuell geltenden Bestimmungen konform.» Die Flammen des Infernos loderten. Es roch nach Schwefel und Unheil. Und bei meinem Vater brannten dabei die Sicherungen durch: er verdammte die gesamte italienische Bürokratie, unter tosendem Applaus der anwesenden Gleichgesinnten. Da war er plötzlich nicht mehr Italiener, sondern ein waschechter Schweizer. Er nannte die Beamten allesamt «Mafiosi» und grenzte sich vehement von ihnen ab, indem er von «die» anstatt von «uns Italienern» sprach.
Die haarsträubendsten Bürokraten-Geschichten haben wir aber in Italien erlebt. Aus unseren langjährigen, familiären Erfahrungen haben sich drei Strategien herauskristallisiert, welche ich an dieser Stelle gerne weitergebe. Sie sind hilfreich, wenn es darum geht, die italienischen Bürolisten zu überlisten:
«Die Geldbeutel-Strategie»
«Die Vitamin B‑Strategie»
«Die Strategie des Wahnsinnigen»
Gehen wir von einem praktischen Beispiel aus: Der Bürger, welcher gemäss New Public Management eigentlich Kunde des Staates wäre, möchte seine Wohnung ausbauen. Hierfür benötigt er eine amtliche Bewilligung. Als zahlender Kunde erreicht er in Italien im Normalfall innert nützlicher Frist nicht viel. Es sei denn, er zahlt noch etwas dazu. Dann können die Prozesse auf wundersame Art und Weise beschleunigt werden. Die «Geldbeutel-Strategie» ist praktisch, weil die Fristen je nach Dicke des Kuverts linear reduziert werden. Aber sie ist diskriminierend, weil nur Gutverdienende davon Gebrauch machen können. Und zudem weitet diese Strategie die Machstellung der Beamten unnötig aus. Bei der «Vitamin B‑Strategie» erhält der Kunde eine Präferenzbehandlung, wenn Verwandte oder Bekannte im bürokratischen Apparat platziert sind. Diese Strategie wird wahr-scheinlich weltweit angewandt. In Italien tut man aber gut daran, die Bekanntschaften ins religiöse Umfeld auszudehnen. Den notwendigen Segen von ganz oben erhält man nämlich nur vom Dorf-pfarrer, der in der Regel einem guten prosciutto di Parma auch nicht abgeneigt ist. Die «Strategie des Wahnsinnigen» setzt theatralisches Talent voraus. Der Bürger muss den Funktionär anschreien und ihm drohen. Es sollten zudem ein paar Stühle umgestossen und dubiose Verbindungen zu lokal ansässigen Kriminellen vorgetäuscht werden. Diese Strategie kann jedoch gefährlich werden, insbesondere dann, wenn sich echte Mafiosi im bürokratischen Apparat eingenistet haben. Und dies ist nicht selten der Fall. Ich sollte aber aufhören, nur auf die italienischen Beamten einzuschlagen. Spätestens seit dem Korruptionsskandal des Informatik-Projektes Insieme weiss ich, dass Verbrecher nicht nur in der italienischen, sondern auch in der schweizerischen Bürokratie zu finden sind. Wir sind doch alle aus demselben Holz geschnitzt. Da war Toto Cutugno, der Gewinner des Eurovision Song Contest im Jahr 1990, unglaublich vorausschauend, als er uns paritätisch in den gleichen Topf warf: «Insieme! Unite, unite, Europe!»
Foto: Illustration: Rodja Galli / www.rodjagalli.com
ensuite, März 2013