Von Anna Vogelsang — Kommenden September jährt sich der Geburtstag von Caspar David Friedrich (1774–1840) zum 250. Mal. Schon das ganze Jahr feiern verschiedene Institutionen das Jubiläum des wohl berühmtesten deutschen Romantikers. Doch diesen Status erlangte C. D. Friedrich erst viele Jahre nach seinem Tod. Manche seiner Zeitgenossen fanden die Bilder von Friedrich apokalyptisch, andere hingegen fanden in ihnen Trost.
Bild links: Albert Freyberg, Bildnis Caspar David Friedrich, 1840, Öl auf Leinwand, Pommersches Landesmuseum, Greifswald, zVg.
Der Weg zum Kunstverständnis kann über Museumsbesuche oder die Lektüre kunsthistorischer Aufsätze erfolgen. Oder wie wäre es mit einer Wanderung? Im strömenden Regen und in einem Tempo, von dem ich nicht erwartet hätte, dass ich es mithalten kann, führten vergangenen Juni zwei Ranger vom Nationalpark Jasmund unsere internationale Reporter-Gruppe durch den Buchenwald am Meer. Das Ziel hatten wir klar vor Augen: die berühmten Kreidefelsen auf der Insel Rügen. Die geradlinigen Stämme der Buchen, dunkel vom Regenwasser, bilden eine natürliche Waldkathedrale. Dieser Wald an der Meeresküste im kleinsten deutschen Nationalpark ist zugleich der grösste zusammenhängende Buchenwald in Deutschland. Als wir unser Ziel erreicht hatten, änderte sich das Naturschauspiel schlagartig: Das schönste Sommerwetter mit einer sanften Meeresbrise bot eine absolut idyllische Aussicht. Ich wollte gar nicht mehr zurückgehen – diesen Ausblick will man nicht missen. Wir können diese fantastische Kreideküste nur erleben, weil Anfang des 20. Jahrhunderts der stillgelegte Kreidebruch zum Naturschutzgebiet erklärt und dadurch die angestrebte Wiedereröffnung des Bruchs gestoppt wurde. Obwohl sich die Küste wegen der natürlichen Erosion permanent verändert, sah Caspar David Friedrich auf seinen Wanderungen wahrscheinlich die gleichen Bilder und erlebte auch dieses ständig wechselnde Küstenwetter …
Gross, rothaarig, mit blauen Augen, schweigsam und melancholisch – so wurde Friedrich beschrieben. Auf seine unzähligen Wanderungen ging er gerne allein, um sich der Natur gänzlich hinzugeben. Doch von wo kam diese Melancholie, diese ungestillte Sehnsucht nach Glück? Manche sehen die Ursache in einem tragischen Unfall in seiner Kindheit, der höchstwahrscheinlich die Charakterzüge des Malers nachhaltig prägte. Wahrscheinlich spielten jedoch mehrere Faktoren eine Rolle: Es war eine Umbruchepoche: Französische Revolution, Abschaffung des Leibeigenenrechts, Kriege, Seuchen, Napoleon und die neue Europaaufteilung, das aufkommende Begehren nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung – unruhige und wegweisende Zeiten.
Caspar David Friedrich wurde in Greifswald – damals die zweitgrösste Stadt in Schwedisch-Pommern – als sechstes von zehn Kindern in eine Handwerkerfamilie geboren. Sein Vater Adolph Gottlieb hatte eine Talgseifensieder-Werkstatt. Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und legte Wert auf eine gute Bildung der Kinder. Doch bald wurde klar, dass Caspar David nicht wie seine älteren Brüder als Geschäftsmann oder Handwerker arbeiten würde – zu zerstreut, zu sensibel und zu nachdenklich war er. Als Caspar David 13 Jahre ist, passiert die Tragödie: Im Dezember 1787 kentern er und sein ein Jahr jüngerer Bruder Christopher auf dem Wallgraben. Beim Versuch, Caspar David aus dem eisigen Wasser herauszuziehen, ertrinkt Christopher. Caspar David überlebt. Eine geplante Lehre tritt er jedoch nicht an.
In den folgenden ein, zwei Jahren erkennt der Vater die künstlerische Begabung des Sohnes und schickt ihn zum Privatunterricht zu Johann Gottfried Quistorp, dem akademischen Zeichenmeister, der seinen Schülern die Nutzung seiner eigenen Bibliothek und den Zugang zu seiner Kunstsammlung gewährte. Ab 1794 machte Caspar David eine Ausbildung zum Maler an der Königlichen Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen (1794–1798/99). Bald wurde Friedrich klar, dass er nicht Porträtist, sondern Landschaftsmaler sein würde. Aus der Zeit in Kopenhagen sind keine Akademiearbeiten erhalten geblieben, nur Blätter mit Studien des Hafens und Porträts seiner Kameraden.
Dann folgt mit dem ordentlichen Status als «Scholar» der Wechsel nach Dresden an die Haupt-Kunst-Akademie von C. L. von Hagedorn. Die Landschaftsmalerei gewinnt durch den aufkommenden Tourismus gerade an Bedeutung. Die ersten Erfolge feiert Friedrich 1802, als er nach einem eineinhalbjährigen Aufenthalt in Greifswald und vielen Wanderungen auf Rügen zurück nach Dresden kehrt: Seine Sepia-Zeichnungen von der nordischen Natur und von Rügen führen zu Goethes Anerkennung und wecken die Aufmerksamkeit der Künstlerkreise. Erst mit 32 Jahren wendet sich Friedrich der Ölmalerei zu.
Was Caspar David jedoch von seinen Zeitgenossen unterschied, war sein freier Umgang mit der Realität: Es ist unsinnig, in den Bildern von Friedrich nach konkreten Orten zu suchen – es gibt sie und es gibt sie nicht. Denn Friedrich komponierte seine Bilder nicht realistisch, sondern malte Stimmungen, Empfindungen, Möglichkeiten einer anderen, parallelen Geschichte oder sogar einer anderen Welt. Auch die Proportionen der Gebäude in seinen Landschaften stimmen nicht. Friedrich rückt unsere Aufmerksamkeit auf das, was für ihn wichtig war. Zugleich finden wir auf allen Bildern reale Orte oder zumindest Elemente aus Friedrichs Gegenwart und Umgebung. So stellt er zum Beispiel die Klosterruine Eldena vor einer Gebirgskette dar, die es in Greifswald nicht gibt. Die berühmte Kreidefelsen-Szenerie gibt es in der Natur so nicht. Dieses Bild malte Friedrich basierend auf eigenen Skizzen von seinen Wanderungen und aus dem Gedächtnis. Es wird immer noch gerätselt, was genau das Bild darstellt. Eine Leseart ist, dass das frisch vermählte Paar Caroline und Caspar David und ein Freund der Familie oder aber sein Bruder zu sehen sind. Eine andere Interpretation besagt, dass die zwei Männer dieselbe Person darstellen, nämlich Caspar David Friedrich: Ein Caspar ist fröhlich und schaut zuversichtlich in die Zukunft, der andere, von Panik und Depression ergriffen, schaut in die Abgründe des Lebens.
Sein Lebensweg hatte Höhen und Tiefen: Er erfuhr Bewunderung und Vergessenheit, Erfolg und Missachtung, tiefe Freundschaften, Verlust und Liebe. Erst mit 41 Jahren erreichte Friedrich beim sächsischen König die Aufnahme in die Kunstakademie, erhielt ein Jahresgehalt von 150 Talern und konnte sich die Gründung einer Familie erlauben: Am 21. Januar 1818, um 6 Uhr früh, heiratet der 43-Jährige in der Dresdner Kreuzkirche seine Liebe, die 25 Jahre junge Caroline Bommer. Die Zeremonie ist bescheiden, und nur die Mutter und der Bruder der Braut sind als Gäste anwesend. In den Folgejahren bekommt das Paar zwei Töchter und einen Sohn. Eine Anstellung als Professor, die die finanzielle Sicherheit garantieren würde, bleibt Friedrich jedoch zeitlebens verwehrt. Man wirft ihm Einseitigkeit vor, frühere Bewunderer finden seine Bilder nicht mehr zeitgemäss. 1835, Friedrich ist 60 Jahre alt, erleidet er einen Schlaganfall und ist ab da teilweise gelähmt. Das Malen geht kaum noch, er fertigt nur noch Zeichnungen an. Am 7. Mai 1840, im Alter von 65 Jahren, stirbt Friedrich.
Kurz vor seinem Tod, wohl wissend, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, ersuchte Friedrich in einem Brief an den russischen Zar Nikolaus I. um eine Rente für seine Frau. Die russische Zarenfamilie und Vertreter der russischen Kunstszene waren zu Friedrichs Lebzeiten die ersten ausländischen Käufer und Sammler seiner Werke gewesen. 1820 besuchte Nikolai Pawlowitsch – der spätere Zar Nikolaus I. – mit seiner Frau Alexandra Fjodorowna Friedrich in seinem Dresdener Atelier. Der russische Zar erwarb im Lauf der Jahre ganze Serien seiner Bilder und sorgte ausserdem nach dem Tod Friedrichs für eine finanzielle Unterstützung von dessen Frau. Der russische Dichter, Übersetzer und Staatsrat Wassilij Andrejewitsch Shukowskij besuchte Friedrich in Dresden während seiner Europareise 1840 ein letztes Mal und schrieb nach der Begegnung: «Traurige Ruine. Er weinte wie ein Kind.» Bei diesem Besuch kaufte Shukowskij wieder einige ausgewählte Zeichnungen, um den Maler zu unterstützen.
Seit der Oktoberrevolution 1917 sind all diese Bilder, darunter das berühmte «Auf dem Segler» (1818–1819), in der Eremitage und im Puschkin-Museum in St. Petersburg. Wann werden diese Werke für europäische Kunstliebhaber wieder zugänglich? Der Münchner Schirmer/Mosel-Verlag entschied sich, nicht abzuwarten, und druckte den Katalog, der zur Ausstellung in den USA im Jahr 1991 in deutscher Sprache erschienen war, nun nach. 1990 organisierte die damalige Kuratorin des New Yorker Metropolitan Museum of Art Sabine Rewald die erste Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in den USA überhaupt, und zwar mit den Bildern und Zeichnungen aus den russischen Museen – «Caspar David Friedrich: Gemälde und Zeichnungen aus der UdSSR». Heute undenkbar.
Die prosaische Tragik unserer Tage zeigt sich in der Tatsache, dass der kulturelle Austausch durch die Aggression Russlands gegen die Ukraine auf unbestimmte Zeit unterbrochen wurde. Prosaisch, weil wir diesen Unterbruch natürlich überstehen und überleben werden – unser Leben wird dadurch nicht bedroht. Doch tragisch ist es trotzdem, denn die jahrzehntelange Kulturvermittlungsarbeit zwischen Europa und Russland ist schlicht und einfach ausradiert worden. War alles umsonst? Waren die Bemühungen um Verständnis und Annäherung der Länder sinnlos? Hoffentlich nicht. Sind wir heute wie der Caspar David, der von den Kreidefelsen in den Abgrund starrt, oder wie der, der hoffnungsvoll und ruhig auf die Weite des Meeres und in die Zukunft schaut?
Das Pommersche Landesmuseum in Greifswald zeigt zu Ehren von Friedrich drei Sonderausstellungen: Bis am 4. August läuft noch «Caspar David Friedrich. Lebenslinien», am 18. August 2024 beginnt «Caspar David Friedrich. Sehnsuchtsorte», und am 16. Oktober folgt der letzte Teil der Trilogie «Caspar David Friedrich. Heimatstadt».
Neben dem Besuch der zur «Europäischen Route der Backsteingotik» zählenden Klosterruine Eldena empfiehlt sich eine Segeltour auf der Ostsee mit dem Traditionsschiff Vorpommern. Der imposante, 1950 erbaute 21 Meter lange Zweimaster wird durch einen Verein von eingefleischten geschichtsliebenden SeglerInnen und EnthusiastInnen ehrenamtlich gepflegt und betrieben. Und wenn man selbst kein Segelboot vor Ort hat, ist das eine wunderbare Gelegenheit, in See zu stechen. Die nächste Station auf den Pfaden von Caspar David Friedrich ist bestimmt das pittoreske Städtchen Stralsund, das nicht nur wegen der Insel Rügen und der Fischbrötchen, sondern auch wegen des wunderbaren Ozeaneums, des deutschen Meeresmuseums und der stimmungsvollen Altstadt bekannt ist. Sowohl der Nationalpark Jasmund als auch die Altstadt von Stralsund gehören zum UNESCO-Welterbe, sind jedoch (zum Glück) noch nicht wie Dubrovnik von Touristen überrannt …
Pommersches Landesmuseum, Greifswald
www.pommersches-landesmuseum.de
Traditionsschiff Vorpommern
www.auf-nach-mv.de
Nationalpark Jasmund
www.nationalpark-jasmund.de
Publikation
Caspar David Friedrich. Gemälde und Zeichnungen aus russischen Museen.
Hrsg. Sabine Rewald. Aktualisierte, erweiterte Ausgabe. Schirmer/Mosel-Verlag, München. ISBN 978–3‑8296–0992‑0.
Die Reise wurde organisiert durch die Deutsche Zentrale für Tourismus DZT.