Von Sandro Wiedmer — Ein hauptsächlich dem filmischen Werk des leider zu früh verstorbenen Christoph Schlingensief (1960–2010) gewidmeter Zyklus in den Kinos Kunstmuseum und in der Reitschule gibt den Anlass zu diesem ensuite-Artikel: In Zusammenarbeit mir der Filmgalerie 451 Berlin steht das filmische Werk des exzentrischen «Enfant terrible» der europäischen Film- und Kunst-Szene im Mittelpunkt der Juni-Programme der beiden Kinos.
In keiner Weise soll hier Personen-Kult betrieben werden. Nicht zuletzt weil er es darauf angelegt hatte, wird sein Schaffen schliesslich kontrovers aufgenommen. Gleichermassen geliebt und gehasst, von rinks wie von lechts, steht es ziemlich einzigartig in der kulturellen Landschaft. Indem er seine wohl temperierte Trash-Ästhetik, stets begleitet von ätzendem, politischem Kommentar, gespickt mit Verweisen und Zitaten, vom Film über die Performance, das Happening auf der Strasse, bis zum grossen Theater und in die bildenden Künste weiterzog, erreichte er, dass ihm offizielle Würdenträger, säuerlich lächelnd, wohl oft widerwillig Auszeichnungen überreichen mussten. Der Gipfel war sicherlich die viel diskutierte posthume Verleihung des Goldenen Löwen 2011 an der Kunst-Biennale von Venedig.
Nach Venedig war er auch am Anfang seiner Karriere gereist, um von Wim Wenders, den er nicht persönlich kannte, ein Empfehlungsschreiben für seinen Beitritt an die Film- und Fernseh-Hochschule in München zu bekommen. Er hat es auch erhalten, aber sein Beitritt wurde zweimal – mit Hohnlachen – abgelehnt. Was hatte der Oberhausener Familienfilmer auch am Hut mit dem Film in Deutschland, wie er damals praktiziert wurde. «Ich sehe mich in der Tradition des neuen deutschen Films. Der ist mal angetreten mit dem Vorsatz, Filme zu Deutschland zu machen, innovativ zu sein, aber dann wurde er sehr wehleidig. Der Autor ruft mea culpa, und die Kritiker nicken. Trotzdem sehe ich mich in dieser Tradition, aber ich glaube, dass meine einzige Berechtigung im Moment in der Drastik liegt: 75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand.», so wird er sagen. Stattdessen macht er Kamera-Assistenz bei Franz Seitz (für «Doktor Faustus», 1982), arbeitet als Lehrbeauftragter für Filmgestaltung und Filmtechnik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach (1983–85) und für Film an der Kunstakademie in Düsseldorf (1986), kollaboriert in Oberhausen mit Werner Nekes, was auch Spuren in seinem Werk hinterlassen wird.
Neben dem frühen Umgang mit dem Medium der bewegten Bilder dank der Heimkino-Ausrüstung seines Vaters sind seinen Aussagen gemäss prägend eine unabsichtliche Doppelbelichtung, welche Aufnahmen von Mutter und Sohn, am Strand liegend, fremde Leute auf ihrem Bauch spazierend zeigte. Diese Panne beflügelte die Phantasie des Einzelkindes mit dem belastenden Bewusstsein, dass seine Eltern eigentlich sechs Söhne haben wollten, weshalb er immer das Gefühl gehabt habe, sechs verschiedene sein zu müssen, durch die Möglichkeiten des Films. Auch die katholische Erziehung, 16 Jahre Messdiener seien nicht umsonst gewesen, er «glaube an den Beichtfilm. Mein Ziel ist es, irgendwann dreißig Filme zu haben, die in unterschiedlicher Form etwas über die Jahre ihrer Entstehung sagen». Zudem gehören die Schriften von Georges Bataille, das Werk von Bunuel, Godard und vielen anderen zeitgenössischen Filmemachern, und das Konzept der sozialen Plastik von Joseph Beuys, das Theater der Grausamkeit von Antonin Artaud zu den wesentlichen Einflüssen für sein Werk, welches nur oberflächlich mit der Ästhetik der B‑Pictures amerikanischer Prägung der damaligen Zeit korrespondierte.
In der Tat machte Schlingensief immer Filme im Familienformat: Sein erster Langspielfilm «Tunguska – Die Kisten sind da» (1983) entstand mit Mitstudierenden an der Kunstakademie Düsseldorf, wo er als assistierender Dozent arbeitete, als letzter Teil seiner «Trilogie zur Filmkritik» unter dem Titel: «Film als Neurose», mit welcher er «eine Art Sehsport-Programm» entwickeln wollte, «das die unmündige Position des Zuschauers bewusst machen und auch zu einem lustvollen, assoziativen Umgang mit dem Medium animieren sollte». Danach gehörte zu seinen Mitstreitenden immer eine Familie von ständigen und ständig wechselnden Involvierten, wie Alfred Edel, Udo Kier, Dieter Kuhlbrodt, Helge Schneider der auch eine Reihe von Soundtracks beisteuerte, und eine wachsende Riege von Darstellenden aus Fassbinder-Filmen. Daneben gehörten jedoch auch immer wechselnde Bekanntschaften wie Tilda Swinton, Helmut Berger, Patti Smith, oder Kitten Natividad (bekannt als favorisiertes Busen-Wunder aus den Filmen von Russ Meyer) zu seinen Musen. Sie alle gehörten zu der Familie, welche auch zum Teil an seinen Aktionen ausserhalb des Kinos teilnahmen.
«So wie es Theatermacher gibt, denen die Bühne zu klein, das Potential der Illusionen und Desillusionierungen zu gering wird und die unbedingt zum Film gelangen müssen, so ist Schlingensief ein Filmemacher, dem das Kino von Anfang an zu kalt und distanziert ist, der, bewusst oder unbewusst, zur direkten Konfrontation, zum Theater und zur Performance strebt.» (G. Seesslen) – Ein grosser Teil seines Werks findet tatsächlich im öffentlichen Raum statt, drängt er nicht gleich selbst ins Medium um dieses zu hinterfragen: Mit «Talk 2000» (1997) lässt er das längst entleerte Format der zahllosen Labber-Shows ins Leere laufen, mit «U 3000» (2000) verwandelt er eine reguläre U‑Bahn in den Spielplatz, die Hohlheit des Fernsehens ins Absurde zu treiben. Oder auf die Strasse: So zum Beispiel mit seiner Aktion «Ausländer raus! – Schlingensiefs Container» (2000), als er vor der Wiener Oper das damals aufkeimende Big Brother-Format mit der wachsenden Fremdenfeindlichkeit verbindet: Die offensichtliche Verarschung der alltäglichen Verblödung durch Fernseh-Formate gerät in die Schusslinie der befürwortenden FPÖ, welche den Witz nicht begriffen hat, sowie der Autonomen, welche sich ebensowenig der Absichten der Unternehmung bewusst zu Sabotage-Aktionen berufen fühlen, und mausert sich zum Medien-Spektakel, indem beide Parteien vor Ort aktiv werden.
Schwer zu glauben: Christoph Schlingensief glaubte an das Gute im Menschen. Die Ästhetik seiner Filme, die für Uneingeweihte schwer zu ertragende Vision einer Zukunft, die für die Müllgrube bestimmt ist, war sein Alltag. Insofern ist er noch immer unser.
Info: www.schlingensief.com
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013