Von Sonja Wenger — Masslose Enttäuschung ist das Grundgefühl, welches der Französischlehrer Germain Germain (Fabrice Luchini) mit sich herumträgt. Nach seiner Einschätzung ist er dazu verdammt, auf ewig farblose, uninteressante und inhaltslose Aufsätze seiner fast erwachsenen Schüler zu korrigieren. Es ist Germains persönliche Vorstellung der Vorhölle, und sie wird durch das Mitgefühl seiner Frau Jeanne (Kristin Scott Thomas) nur bedingt gelindert.
Erlösung findet Germain erst, als ein Essay des schüchtern wirkenden 16-jährigen Claude Garcia (Ernst Umhauer) seine Aufmerksamkeit weckt. Mit stilsicherer und unprätentiöser Sprache erzählt Claude darin, wie er sich ins Haus seines Mitschülers Rapha Argol (Bastien Ughetto) eingeschlichen hat, und was er dabei alles beobachten konnte. Präzise beschreibt er Raphas Mutter Esther (Emmanuelle Seigner), dessen Vater Raphael (Denis Ménochet) und die Dynamik einer Familie, die Claude selber nie hatte.
Der Text fasziniert Germain, der selber gerne Schriftsteller geworden wäre, durch seinen bizarren, offen voyeuristischen aber hochintelligenten Ansatz derart, dass er Claude sofort unter seine Fittiche nimmt. Getrieben durch seine eigenen Neugierde, wie die Geschichte weitergeht, die mit «Fortsetzung folgt» endete, animiert er Claude, seine Besuche im Haus fortzusetzen – versteckt dies jedoch vor sich selbst unter dem Mantel der literarischen Förderung eines jungen Mannes.
Germains wachsende Irritation, aber auch Obsession mit Claudes Essays überschwemmt nicht nur sein berufliches, sondern zunehmend auch sein privates Leben. Indem er Jeanne unerlaubterweise alle Texte vorliest, macht er sie zur Komplizin. Zwar kann auch sie sich ihrer Neugierde kaum erwehren, doch sie realisiert bald, welch zerstörerisches Potenzial Germains Obsession zugrunde liegt.
«Dans la maison», der neueste Wurf von Regisseur François Ozon, Frankreichs enfant terrible der tiefgründigen Geschichtenerzähler, ist ein Meisterwerk der Subtilität, schlau aufgebaut und packend erotisch. Wie Germain gerät auch das Publikum beinahe vom ersten Augenblick an unter den Bann von Claudes Beschreibungen und Interpretationen dessen, was im Haus der Argols vor sich geht. Atemlos lauscht man Claudes Stimme, der seinen Text vorliest, und hat gleichzeitig die Szene vor Augen. Germains folgende Kritik und seine Anregungen werden sofort umgesetzt, so dass das Publikum dieselbe Szene noch einmal zu sehen bekommt, diesmal mit den neuen, veränderten Elementen. Doch trotz der Repetition schreitet die Geschichte stets voran, wird zunehmend komplexer, bunter und faszinierender.
Dieser erzählerische Kniff von Ozon, der zur Folge hat, dass die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Wunsch und individueller Wahrnehmung zunehmend verwischen, ist an Genialität kaum zu überbieten. Nicht nur schafft Ozon so das wachsende Gefühl einer latenten Bedrohung durch Claudes unterschwellig soziopathisches Verhalten. Es ermöglicht ihm – genauso wie den Protagonisten und dem Publikum – auch viel Raum für wechselnde Interpretationen. Bis zum Ende bleibt deshalb offen, respektive dem eigenen Gutdünken überlassen, ob man «Dans la maison» nun als literarische Erzählungen über einen jungen Mann und seine gerade erwachende Sexualität lesen möchte, als entgleitende Fantasie eines frustrierten Lehrers, oder als den hinterhältigen und gezielten Versuch, die Scheinheiligkeit der Mittelklasse zu entlarven. Alles ist richtig, und alles ist falsch. Gänzlich ohne Zweifel ist nur, dass «Dans la maison» begnadetes Kino der Extraklasse ist.
«Dans la maison», Frankreich 2012. Regie: François Ozon. Länge: 105 Minuten.
Foto: zVg.
ensuite, November 2012