Von Karl Schüpbach – Frei erfundenes Gespräch zwischen einem Politiker und
einem pensionierten Mitglied des Berner Symphonieorchesters (1. Teil):
Der Politiker: Ich habe in meiner Fraktion den Inhalt unserer Gespräche zusammengefasst. Dabei ist der Wunsch geäussert worden, Sie möchten sich noch vertieft über die scharfe Kritik an dem Bericht Häring äussern.
Der Musiker: vorerst möchte ich Ihnen danken, dass es mit Ihrer Hilfe gelungen ist, einen Dialog zwischen der Fraktion einer politischen Partei und einem Musiker im Ruhestand aufzubauen. Die Worte des ehemaligen Gemeindepräsidenten von Worb bleiben mir unvergesslich: Wenn eine fruchtbare Kulturförderung erfolgreich sein will, so ist es unumgänglich, dass beide Seiten, Politiker wie Kunstschaffende, gegenseitig vorhandene Informations-lücken schliessen.
Ich habe Ihnen ja gesagt, wie sehr mich meine Wissenslücken über Ihren Beruf, und alles, was mit ihm zusammenhängt, verunsichert haben.
Bevor ich auf Ihre Aufforderung einer Präzisierung meiner Ausführungen zurückkomme, spreche ich noch über ein Unbehagen, das mich im Zusammenhang unseres Austausches immer wieder befällt: Gegenstand unserer Diskussion ist ja die Zukunft des Berner Symphonieorchesters (BSO) und des Stadttheaters Bern (STB). Der Vorstand der Regionalen Kulturkonferenz Bern (RKK) diskutiert diese Probleme seit Monaten hinter verschlossenen Türen. Diese Geheimhaltung ist meines Erachtens völlig fehl am Platz, und sie kann doch allzu leicht zur Folge haben, dass wir durch eine trockene Pressemeldung über Beschlüsse, die der RKK Vorstand gefasst hat, mangels Wissen ins Unrecht gesetzt werden.
Da gebe ich Ihnen Recht, das Vorgehen ist nicht transparent, und die Politik der vollendeten Tatsachen ist abzulehnen. Im konkreten Fall erfolgen unsere Vorbehalte wohl zu spät, aber für sicherlich folgende weitere Entscheide dieser Tragweite muss dringend eine andere Form gewählt werden.
Doch nun zurück zum Bericht Häring mit seinen Lösungsvorschlägen. Es mag Sie überraschen, aber meine Einstellung hat sich seit unserem letzten Gespräch verändert – oder besser: Sie ist differenzierter geworden. Vorerst hat Empörung vorgeherrscht, es wäre ja auch verständlich, wenn sich eine seit Jahren angestaute Wut explosionsartig entladen hätte, eine Frustration über ungerechte Statuten mit ihrem Freiraum für Fremdbestimmung, über Arbeitsbedingungen im Theater, die immer wieder eine Gefahr für die Gesundheit darstellen, über Lohnverhältnisse, die das BSO auf den skandalösen vorletzten Platz der Gehaltsskala der Schweizerischen Symphonieorchester abrutschen lassen. Diese Eruption ist nicht erfolgt, ich sehe zwei Gründe: Der eine liegt im Orchester begründet, der andere bei mir selbst Ich beobachte meine Kolleginnen und Kollegen im BSO, sie leiden genau so wie ich seinerzeit unter den gerade geschilderten Widerwärtigkeiten. Gleichzeitig kommt es mir aber so vor, als würde der gesamte Klangkörper mit seiner überaus glücklichen alters-
mässigen Durchmischung gemeinsam Atem holen, um einer Aufbruchstimmung Gestalt zu geben, die, in Worte gefasst, etwa lauten würde: «Wir stellen unser Können in den Dienst einer qualitativen Aufwärtsbewegung, die wir spüren und auf die wir stolz sind». Mich erfüllt dieses spürbare Setzen einer Priorität mit Bewunderung. Ich muss aber dringend vor einer Ausnützung dieser Situation warnen, im Sinne von: «Es ist ja alles in bester Ordnung». Der Krug geht bekanntlich solange zum Brunnen …
Ihre engagierte Schilderung des Leistungswillens der Musikerinnen und Musiker des BSO kann von interessierten Publikumskreisen nachempfunden werden, die enormen Fortschritte des Orchesters sind evident. Welches sind nun die persönlichen Gründe für Ihre geänderte Sichtweise?
Entscheidend ist für mich die Erkenntnis, dass Herr Häring und sein Team, nicht als eigenständige Personen sprechen und handeln. Wenn dem so wäre, müsste sich in der Tat ein Gewitter von Kritik und Abwehr über ihnen entladen. Untersucht man die Schlussfolgerungen von Herrn Häring, wird sofort offensichtlich, dass hier im Namen der freien Marktwirtschaft gesprochen wird, dass die Empfehlungen des Berichtes von kapitalistischer Denkweise geprägt sind. Grotesk wird es bei Herrn Häring, wenn er von «gleichbleibende Mittel, Sparmassnahmen, Abbau von Aktivitäten, Fusion oder Zusammenlegung, Synergien schaffen», spricht. Dies könnte das Bekenntnis eines x‑beliebigen Managers sein, der gezwungen ist, seinen Betrieb wieder auf die Strasse der Rendite zu führen, wobei es völlig uninteressant ist, wer unterwegs auf der Strecke bleibt. Wenn die Schlussfolgerungen von Herrn Häring aber dermassen von der freien Marktwirtschaft dominiert sind, so ist er als Akteur beliebig austauschbar, seine Denkweise ist, individuell gesehen, nicht mehr entscheidend.
Falls ich Sie richtig verstehe, macht es wenig Sinn, einzelne Personen zu kritisieren. Von Interesse ist vielmehr die Zukunft von zwei gros-sen kulturellen Institutionen unserer Stadt unter dem Einfluss der freien Marktwirtschaft?
Genau. Bevor ich auf diese alles entscheidende Frage eingehe, möchte ich auf eine eklatante Schwäche unserer Strukturen hinweisen, die schon erwähnte Fremdbestimmung. Es lässt sich nicht weg diskutieren: Ein Kulturmanager mag noch soviel von Kunst verstehen, wenn er nicht als Musiker auf dem Konzertpodium oder im Orchestergraben arbeitet, wenn er nicht am eigenen Leib empfinden muss, was es bedeutet, als Dirigent, Sänger, Schauspieler, Tänzer oder Chormitglied auf der Bühne zu stehen, wenn er diese Bedingungen nicht erfüllt, wird er die Probleme in ihren feinsten Verästelungen nicht verstehen können. Im konkreten Falle hindert dies Herrn Häring aber nicht daran, seine Empfehlungen auszusprechen, als ob er vom Fach wäre. Direkt betroffene Künstler hätten den Auftrag des Vorstandes RKK völlig anders in Angriff genommen. Weiter: Der Vorstand RKK sah sich – zu Recht – ausser Stande, als Laien, die komplexen Probleme zwischen dem BSO und dem STB zu durchschauen. Die Lösung, die er trifft, ist an Inkonsequenz nicht zu überbieten: Er delegiert die Aufgabe an andere Laien!
Wo liegt der Unterschied?
Wir würden erbittert dafür kämpfen, dass im Dialog Politik-Kultur die Prinzipien der freien Marktwirtschaft eine alles dominierende Stellung einnehmen! Ich habe bewusst das Verb «erbittert» gewählt, und ich mache mir keinerlei Illusionen. Seit ich denken kann, waren und sind immer die Prinzipien und das Vokabular der Marktwirtschaft die alles dominierenden Elemente, auch die Kultur muss sich da unterordnen.
Können Sie diese Aussage in Bezug auf das BSO untermauern?
Gerne. Der grösste künstlerische Banause wird der Erkenntnis zustimmen müssen, dass die «Produkte» Konzert, Musiktheater und Ballett in Bezug auf Qualität und Erfolg nicht messbar sind. Herr Hayek dagegen, kann die Qualität seines Produktes, der Uhren, genau überprüfen und daraus die nötigen Schlüsse ziehen, um seinem Unternehmen den Erfolg zu sichern. Dieser entscheidende Unterschied hindert die politisch Verantwortlichen nicht daran, den kulturellen Institutionen einen Leistungsauftrag vorzuschreiben. Leider kann hier nicht vorgeschrieben werden, die 1. Violinen hätten pro Spielzeit so und so viele richtig gespielte Noten abzuliefern! Schon allein daraus wird ersichtlich, dass diese Leihgabe aus dem Wortschatz der gewinnorientierten Wirtschaft – Leistungsauftrag – völlig absurd ist. Ich habe von der uneingeschränkten Vorherrschaft der Marktwirtschaft gesprochen. Der erwähnte Terminus und – schlimmer – seine Prinzipien werden dennoch angewendet: Man gibt sich dem irrigen Glauben hin, messbare Grössen wie «durchschnittliche Auslastung» oder «Eigenfinanzierung» brächten die Lösung, entsprechende Zahlen werden aus dem Hut gezaubert und verbindlich vorgeschrieben. Abweichende Zahlen nach unten werden mit «Leistungsauftrag nicht erfüllt» benotet.
Ich sehe ein, dass ein Leistungsauftrag nicht das Ei des Kolumbus sein kann. Aber lässt sich seine Legitimation wirklich völlig abstreiten?
Gerne lasse ich einige Beispiele folgen: Ein sehr bekannter Dirigent, seine Qualitäten sind weitgehend unbestritten, dirigiert im Casino Werke mit grossem Popularitätswert und hohem künstlerischen Inhalt … der Saal bleibt halbleer, der Applaus ist entsprechend dünn. Andererseits passiert es immer wieder, dass Dirigenten, die das Orchester nicht eindeutig zu überzeugen vermögen, grosse Erfolge vor vollem Saal feiern können. Ein Beispiel aus dem Theater, das mir in besonders schmerzlicher Erinnerung bleibt: Ein Tenor von Weltruhm sang eine Hauptrolle in einer Mozart-Oper. Er hatte den Zenit seiner Weltkarriere überschritten, für uns Musikerinnen und Musiker des BSO grenzte das Ganze an Tragik. Nicht aber für das Publikum im ausverkauften Haus, sein grosser Name reichte immer noch aus für einen triumphalen Erfolg. Auf einen Nenner gebracht: die Auslastung, und damit natürlich die Eigenfinanzierungsquote einer kulturellen Veranstaltung sagen nichts Messbares aus über die Qualität eines Konzertes oder einer Veranstaltung des Musiktheaters, weder in positiver noch in negativer Hinsicht! Das einzig fassbare Kriterium ist der menschliche, individuelle Geschmack und über den lässt sich bekanntlich nicht streiten. Leistungsaufträge müssen also in der Kultur versagen.
Wenn kein Leistungsauftrag, was dann?
Die vielleicht fast revolutionär anmutende Forderung nach einer Kulturförderung, die nicht sklavisch die Auflagen der Marktwirtschaft befolgt, muss in der Lage sein, eine Alternative anzubieten. Sonst läuft sie Gefahr im luftleeren Raum zu schweben. Ich wage den Versuch einer Antwort: Der Auftrag an Kulturelle Institutionen wie das BSO und das STB sollte also nicht mehr unter dem Blickwinkel der Rentabilität erfolgen. Die Aufgabenstellung müsste folgende Grundhaltung zum Ausdruck bringen: Die freie Marktwirtschaft, der Kapitalismus, die Geldgier, die Gewinnsucht, haben die gesamte Menschheit an den Rand des Abgrundes gebracht, ohne dabei ihre alles umfassende Macht einzubüssen. Erinnert sei nur an das Scheitern der Klima-Konferenz in Kopenhagen, und die sich täglich mehrenden Beispiele, wonach die Finanzwelt von einem individuellen, rücksichtslosen Egoismus dirigiert wird, als wäre die weltweite Krise nur ein lästiges Jucken. Es ist genug, von dieser destruktiven Gesinnung muss sich die Kulturförderung entscheidend distanzieren! Dadurch erhellt sich die Stossrichtung eines oben erwähnten Auftrages etwas: Es muss alles unternommen werden, um möglichst viele Menschen an der vom BSO und dem STB angebotenen Alternative teilnehmen zu lassen. Aber wie? Die intensive, tägliche Beschäftigung mit dieser Frage hat einen Hoffnungsschimmer entstehen lassen in der Erkenntnis, dass ein Umdenken nur mittels Schneeballeffekt möglich sein wird. Konkret: Wenn die Stadt, der Kanton und die Gemeinden der Agglomeration den Mut aufbringen könnten einen anderen Weg aus der Krise rund um das BSO und das STB zu finden, also nicht den vom Bericht Häring vorgezeichneten, so könnte dieses Beispiel vielleicht den Schneeball zur Lawine anwachsen lassen.
Wie könnte denn dieser Weg aussehen?
Wenn wir bejahen, dass die Empfehlungen von Herrn Häring und seinem Team völlig von materialistischer Denkweise geprägt sind und wenn ihr abgeschworen wird, so wird die Antwort auf Ihre Frage von einer überraschenden Logik beherrscht: fast alle Schlussforderungen von Herrn Häring müssen in ihr Gegenteil umgewandelt werden. Doch der Reihe nach: Durch den ganzen Bericht zieht sich wie ein roter Faden, dass wegen Geldmangels kein Franken an Mehrsubvention geleistet werden könne. Diese Behauptung ist absolut unglaubwürdig. Die folgenden Beispiele sollen dies belegen: Der Kubus beim Historischen Museum verursacht bedeutende Mehrkosten. Der neue Museumsdirektor erklärt im Radio trocken, die Subventionsbehörden müssten die Mehrkosten übernehmen. So einfach ist das, das Geld wird fliessen. Lassen Sie mich das Bärenpark-Debakel auch erwähnen, auch hier wird ein Mehr an Geld gesprochen werden müssen. Weiter: Der Anbau an das Kunstmuseum ist nicht am Geldmangel gescheitert. In der Zusammenfassung behaupte ich: Es fehlt nicht das Geld, um der Zukunft des BSO ein anderes Gesicht zu verleihen, es fehlt an der Überzeugung, dass es sich hier um eine vitale Notwendigkeit handelt.
Wenn Sie so strikt die Einsicht fordern, dass mehr Mittel fliessen müssen, werden Sie folgerichtig auch die von Herrn Häring vorgeschlagenen Sparmassnahmen zurückweisen.
In aller Entschiedenheit! Wenn wir über die vorgeschlagene Verminderung von künstlerischen Aktivitäten im Casino und im Theater sprechen, so sehen wir uns mit der wohl brutalsten Methode der Marktwirtschaft konfrontiert: totsparen. Gleichzeitig zeugt diese Empfehlung von einem schier unerträglichen Dilettantismus. Die Behauptung, der Abbau von künstlerischen Aktivitäten, erlaube gleichzeitig eine Steigerung der Qualität des Orchesters, ist barer Unsinn.
Können Sie dies näher erläutern?
Vielleicht spielen Sie mit gleichgesinnten Freunden in Ihrer Freizeit Streich-Quartette. Dank einer gewissen Regelmässigkeit des Zusammenspiels haben Sie ein schönes Niveau erreicht. Aus irgendwelchen Gründen müssen Sie die Anzahl Ihrer gemeinsamen Übungsstunden drastisch reduzieren. Es gibt keinen Ausweg aus der traurigen Konsequenz: Sie werden der erreichten Fertigkeit nachtrauern, und Sie werden beim gemeinsamen Musizieren viel weniger Freude empfinden. Lassen Sie mich beim Sport eine Anleihe machen: Aus finanziellen und organisatorischen Gründen muss der BSC Young Boys seine Trainingseinheiten reduzieren: Der Abstieg in die Challenge League ist vorprogrammiert!
Ihr Gegenvorschlag?
Er wird Sie nicht überraschen, weil die Absage an gewohntes materialistisches Denken besonders sichtbar wird: Das BSO muss in die Lage versetzt werden, seine künstlerischen Aktivitäten wesentlich auszubauen. Wir müssen gleichzeitig den Glauben an eine Zukunft vermitteln, den Glauben an eine Alternative zum heutigen Pessimismus, zu den heutigen Ängsten. Finanzielle Überlegungen werden dabei eine Rolle spielen, aber sie dürfen nicht mehr die alleingültige Entscheidungsgrundlage abgeben.
Wo sehen Sie denn Ausbaumöglichkeiten?
Ich zähle sie Ihnen gerne auf. Dabei muss ich aber betonen, dass das BSO mit seinem heutigen Bestand nie alle Aufgaben, die es unbedingt auf sich nehmen müsste, erbringen kann. Die Schaffung von zusätzlichen Stellen ist unumgänglich! Eine ganz primäre Forderung an das Orchester ist es, neue Formen zu finden, um die Jugend abzuholen. Hier sind schon Bestrebungen im Gang, die noch vertieft und konkretisiert werden müssen. Ganz generell muss unser Publikumskreis mit neuen Formen ausgeweitet werden, wobei das traditionelle Sinphoniekonzert im Casino nicht vernachlässigt werden darf. Ich stelle Ihnen zusätzlich ein paar Fragen: Wieso spielt das BSO keine Tonträger ein? Wieso unternimmt das BSO höchstens eine Ausland-Tournee pro Jahr? Wieso ist das BSO nie Gast bei internationalen Festivals? Wieso wiederholt das BSO nicht regelmässig seine Konzerte in der Schweiz? Wichtig ist es mir auch festzuhalten, dass mit einer solchen Ausweitung das erreichte Niveau des Orchesters noch gesteigert werden kann, und nicht, wie vorgegaukelt, mit einer Verringerung der Auftritte.
Ich fühle mich fast erschlagen, ich muss über Ihre Argumente nachdenken. Ich bitte Sie, die geplante Zusammenlegung der Dispositionen und die Frage der Lohnerhöhung auf unseren nächsten Gesprächstermin zu verschieben.
Ich danke Ihnen für Ihr geduldiges Zuhören.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2009