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Das grosse Schiff im Text-Tsunami

Von Julia Richter — In sein­er neusten Insze­nierung im Zürcher Schiffs­bau ver­ab­schiedet sich René Pollesch wortre­ich von inneren Werten und zeigt, warum das mit der Liebe anders ist als wir denken.

Wenn Schaus­piel­er auf der Bühne the­o­ri­eträchtige Textfrag­mente rez­i­tieren, alles bunt und schnell und über­frachtet ist; wenn die Zuschauer nach anderthalb Stun­den den Raum ver­lassen und sich fra­gen, um was genau es eigentlich ging – dann klingt das nach einem anstren­gen­den The­at­er­abend.

Das ist es aber in diesem Fall nicht. Nach «Calvin­is­mus Klein», «Fahrende Frauen» und «Macht es für euch!» ist Regis­seur und Autor René Pollesch nun mit «Here­in! Here­in! Ich atme euch ein!» nach Zürich zurück­gekehrt. Das neue Stück ist eine knal­lige und frische Col­lage aus Gedanken und The­o­rien – und macht erstaunlich viel Spass.

Das liegt ein­er­seits am von Bert Neu­mann im Schiffs­bau real­isierten Büh­nen­bild. Dieses beste­ht sin­niger­weise aus einem mon­u­men­tal­en Schiff, das sich trotz sein­er Grösse und Sper­rigkeit als viel­seit­ig ein­set­zbare Req­ui­site erweist. Mal wird es zum Mit­tel für eine Atlantik-Über­fahrt. Ein anderes Mal dient es als Schrank. Oder es muss plöt­zlich über einen imag­inären Berg getra­gen wer­den, und erin­nert damit an Klaus Kin­s­ki im Peru­anis­chen Dschun­gel. Hin­ter­grund der Büh­nen­szener­ie bildet ein glitzern­der Lamet­ta­vorhang, der sich im genässten Boden spiegelt und durch den das Pub­likum hin­durchge­hen muss um zu den Zuschauer­rän­gen zu gelan­gen.

Zudem sor­gen die Darstel­lerin­nen und Darsteller für Furore. Allen voran ein Chor, der aus über zwanzig Män­nern in grell­bun­ten Poly­ester-Anzü­gen beste­ht, und der sich als eine Art kollek­tive Einzelper­son in Szene set­zt. Flankiert wird der Chor von vier Schaus­piel­ern, die sich gegen­seit­ig in nuanciertem Pathos Argu­mente über Liebe, Geschmack und Inner­lichkeit an den Kopf wer­fen. Hier­bei haben Inga Busch, Nils Kah­n­wald, Marie Rosa Tiet­jen und Jir­ka Zett jedoch nur begren­zt die Gele­gen­heit, ihr schaus­pielerisches Kön­nen zu präsen­tieren. Denn Rol­lenpsy­chol­o­gisierun­gen find­en bei Pollesch kaum statt. Die Fig­uren haben keinen eige­nen Charak­ter, son­dern sind ein Medi­um für The­o­ri­erez­i­ta­tio­nen.

Und dann der Inhalt: der ist eine Her­aus­forderung für das Selb­st­bild des mod­er­nen Indi­vid­u­al­is­ten. Denn da wird aufgeräumt mit landläu­fi­gen Vorstel­lun­gen von inneren Werten. Von wegen «good char­ac­ter is shin­ing through» – von Innen nach Aussen kann nichts scheinen, weil da ein­fach nicht viel ist.

Dieser anti-Indi­vid­u­al­is­mus-Keule fol­gt ein her­rlich zynis­ches Boll­w­erk der Unro­man­tik. Weil die Inner­lichkeit nicht existiert, liebt der Men­sch im anderen Men­schen nicht das Sub­jekt, son­dern das Objekt. Begehren und Liebe sind äusser­lich. Will jemand für seine Inner­lichkeit geliebt wer­den, so degradiert er sich selb­st zu einem triv­ialen «Mit­men­schen.»

Damit läuft die Maschiner­ie der The­o­rien – Polleschs Fachge­bi­et – wieder auf Hoch­touren. Da wird mit Argu­ment­frag­menten nur so um sich gewor­fen. Und das Schöne dabei ist, dass die Texte schlau sind, ohne gestelzt zu sein; sie geben Gedanke­nanstösse, ohne zu moral­isieren. Lei­der erscheint das Stück aber auch wie ein eilig dahinge­wor­fenes und dicht­es Sam­mel­suri­um aus kaum zu Ende geführten Gedanken und The­o­rien. Das lässt Tiefe ver­mis­sen.

Aber das Ganze muss ja auch Spass machen. Deshalb ver­lässt man nach einem intellek­tuell anre­gen­den und trotz­dem unter­halt­samen Abend­pro­gramm den Saal durch den Glitzer­vorhang und über­legt sich, wie oft man sich am ver­gan­genen Tag schon zum Mit­men­schen degradiert hat.

Infor­ma­tio­nen unter www.schaupielhaus.ch.

Foto: zVg.
ensuite, Feb­ru­ar 2014

Artikel online veröffentlicht: 23. Mai 2019