Von Peter J. Betts — Das Kostbare erhält in bestimmten Bereichen immer wieder neue Inhalte und verliert alte. Gewinnoptimierung? Danach sieht es aus, sonst würden die Werbestrategen – Frauen sind diesbezüglich, vermute ich, in der Minderzahl — diesen Sachverhalt nicht wie ein Mantra ihrer Kundschaft als lebensbestimmende Zauberformel erfolgreich suggerieren. Das Wunderbare daran ist für Sie, dass das Verlorene manchmal nur scheinbar verloren ist, weil oft beliebig reproduzierbar. Eine Frage drängt sich auf: war es je anders als nur scheinbar da? Sie haben eine Radiosendung verpasst? Kein Problem. Via Internet ist sie jederzeit und überall abrufbar. Sie haben nicht genau hingehört? «Klick». Wozu denn überhaupt zuhören? Der gelebte Energieerhaltungssatz? Sie erinnern sich: «In einem abgeschlossenen System bleibt die Gesamtenergie konstant.» Und das unabhängig von der Zeit. Ein abgeschlossenes System ist ein System ohne Informations‑, Energie- oder Stoffaustausch – und ohne Wechselwirkung mit der Umgebung. Offenbar mehrt sich aber das Gespeicherte global ungebremst, und nichts, was man noch so gern zum Verschwinden brächte, geht virtuell verloren. Der Energieerhaltungssatz ausser Kraft gesetzt? Oder gehört die virtuelle Welt nicht zu unserem abgeschlossenen System? Wie steht es hingegen beispielsweise mit einem Geruch, der in der Kindheit eine ganz besondere Bedeutung hatte, den Sie seit Jahrzehnten nicht gerochen haben, und nach dem es jetzt unerwarteterweise plötzlich so riecht — Sie sich ebenso plötzlich mitten im Keller Ihres Elternhauses als Vierjähriger befinden? Das hat mit der virtuellen Welt nichts zu tun. Oder denken Sie sich zum Beispiel in eine Zeit hinein, in der ein Klang erklang und dann unwiederbringlich verklang. Als Schubert seine Winterreise den Freunden vorstellte, geschah etwas mit ihnen, das sie Zeit ihres Lebens nie mehr vergassen; nicht zuletzt, weil der Vorgang nicht wiederholbar war: sie waren selber Teil des Vorganges. Jeder Patzer, jeder gelungene Lauf, jedes Zeichen von Gerührtsein des Sängers – oder der Zuhörenden –, jedes Räuspern und Rascheln, allenfalls ein Schluchzer prägte sich allen ein. Wer von ihnen das Ereignis verpasst hatte, hatte es verpasst. Definitiv. Die Freunde konnten das Gehörte weitererzählen, sie konnten darüber schreiben, und vielleicht gelang es einzelnen, es so darzustellen, dass auch bei ihren Zuhörenden ein, wenn auch auf ihre Persönlichkeit abgestimmtes, anderes Bild erwuchs und dann ebenfalls erhalten blieb. Der schöne, unwiederbringliche Klang: Kostbares, das weder neue Inhalte erhält, noch die ursprünglichen verliert, in der Erinnerung aber an Wert gewinnt? Ich hörte Reinhard Mey bei seinem ersten Auftritt im Zähringerrefugium, wohl Ende der Sechzigerjahre, «Ich wollte wie Orpheus singen» und «Ankomme Freitag, den 13.» singen. Der Zuschauerraum war verraucht, ob Mey auf der Bühne rauchte, ob er sich räusperte oder hustete weiss ich nicht mehr. Nach dem Konzert sass man zusammen und trank. Mey war einer von uns. Ich habe ihn dann ziemlich viel später im Berner Kultur-Casino – wie es heute heisst — gehört, natürlich auch die beiden Lieder als Mey-Markenzeichen; nach seinem Auftritt verzog sich Mey; alles andere wäre undenkbar gewesen; es hatte auch sehr anders geklungen. Anders? Lag das an mir? An ihm? Am Raum? Am Publikum? Natürlich kann ich mir die beiden Lieder auf Platte oder CD anhören, immer wieder, stundenlang. Mit Sicherheit kein Räuspern, kein Patzer, keine falsche Pause – nur, glücklicherweise, auf der Platte ein paar Kratzer. Ich kann mir auch eine ganze Nacht lang Mozarts Klarinettenquintett anhören, mit Benny Goodman, oder eben auch die Winterreise mit Dietrich Fischer-Dieskau. Tolle Interpretationen. Jeweils mit der dem Produktionsjahr entsprechenden bestmöglichen Aufnahmetechnik. Ich kann dazu trinken und, wenn ich will, paffen. Ich kann mich auf eine Traum-oder Zeitreise begeben: zurück ins Zähringer-Refugium; nach Lindfield, wo mich Paul mit Benny Goodmans Interpretation des Klarinettenquintetts bekanntmachte; nach Burgdorf, wo mir mein Deutschlehrer Fischer-Dieskaus Winterreise als Premierengeschenk zur «Draussen vor der Tür»-Inszenierung unter meiner Regie in die Hand drückte. All das hat aber mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, nur in sehr zweiter Linie mit den Klängen. Bei Radio DRS2 (wenn dieser Artikel erscheint, ist die Institution mit viel Grösserem verschmolzen worden: Prost! Oder mit Mey: «Gute Nacht, Freunde…») herrschte eine durchaus glaubwürdig wirkende Authentizität und auch, dies natürlich nur scheinbar, eine Nähe zu den einzelnen Zuhörenden. Man fühlte sich von den Moderatoren und Moderatorinnen in ihre Moderation einbezogen; es gelang ihnen, den Eindruck zu erwecken, es handle sich um einen gemeinsamen gedanklichen Prozess, einen persönlichen Dialog. Vergleichbar mit einer Live-Show in einem guten Theater, wo man zwar weiss, dass «die auf der Bühne» in eine Rolle hineingeschlüpft sind und «die im Zuschauerraum» nicht oder wenigstens anders. Und bei der DRS2 Team-Übersicht fand man ihre E‑Mail-Adresse für den virtuellen Direktkontakt. Nun, die Adressen sind schon vor der Umstrukturierung verschwunden. Zu viele haben das persönliche Angebot wohl genutzt: Zeitverlust (weil im Programm nicht eingeplant und sich die Effizienz nicht mit Quoten belegen lässt), was einer klaren Führungsstruktur neoliberaler Prägung widerspricht. Die strukturellen Hierarchien sind nun vertikal geordnet: die Spitze wird proportional zum wachsenden Machteinfluss schmaler; nur in den einzelnen Fachgebieten gibt es eine horizontale Führungs- oder vielleicht gar Kommunikationsstruktur. Die Arbeitseinsätze werden optimiert. Ob man dabei etwas verliert? So «neo» ist es natürlich auch wieder nicht: «divide et impera!» ist ein altes Modell und funktioniert – damals wie heute — jeweils auch eine Zeitlang mehr oder weniger gut, wenigstens, bis sich die geschaffenen Teilbereiche wieder zu autonomisieren beginnen und auseinander driften, oder gegeneinander im fröhlich-tödlichen Wettstreit mit entsprechenden Machtansprüchen antreten: Grundlage für wiederum ganz neue Strukturen. Alles im Rahmen des Energieerhaltungssatzes: das beim Erneuerungsprozess Verlorengegangene wird unmerklich zum integrierten Teil des Neuen, wie es sich für ein abgeschlossenes System gehört. Die Feststellungen hier sind übrigens weder als kulturpessimistische Schelte, noch als nostalgische Schwärmerei gedacht. Die Gegenwart kann weder ohne Blick in die Vergangenheit, noch ohne Tastversuche in die Zukunft verstanden oder bewusst gelebt werden. Die Zeit, in der ein Klang erklang und dann unwiederbringlich verklang… Der verschwundene Duft aus der Kindheit… Ein Verlust, oder Futter für die Erinnerung als Lebensgrundlage? Im Winter, wenn man sich einigermassen verantwortungsbewusst ernähren will, greift man vielleicht eher auf Eingefrorenes, Gedörrtes, auf Konserven zurück, und mit etwas Zurückhaltung auf das, was auf der Sommererdkugel im Überfluss (?) wächst. Die Platte mit Dietrich Fischer-Dieskaus Winterreise, oder die mit Benny Goodman macht in vielerlei Hinsicht Sinn, auch die CD mit Liedern von Reinhard Mey. In einer Schlagzeile behauptet die BZ, die Zeitung sei kein Auslaufmodell. Vielleicht, falls der lächerlichen und unmöglichen Aktualitätsgier ein Schwergewicht mit reflektierten Grundsatz-Artikeln entgegengesetzt wird. Das Kostbare erhält immer wieder neue Inhalte – und verliert alte, die möglicherweise in neuer Form und Funktion ins scheinbar Verlorene einfliessen.
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ensuite, Januar 2013