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Das rechte Blut, Francesca Melandri

Von Dr. Reg­u­la Staempfli - Kranken­häuser wer­den geschlossen, Behin­derte kriegen keine Rente, die Strassen sind ein Krater­feld, ohne Bestechung gibt es keinen Stu­di­en­platz, man wartet in der Notauf­nahme Monate, ja selb­st ein gutes Stück Fleisch muss man sich beim Met­zger zuerst durch Net­tigkeit­en ver­di­enen: willkom­men in Ital­ien! Zehn­tausende von Euros wer­den für das Denkmal eines alten Faschis­ten, eines Massen­mörders, den Schlächter von Addis Abe­ba, den Henker von Salò aus­gegeben, dafür sorgt momen­tan die jet­zige Regierung im Stiefel, mit­ten in Europa.

Melandris Buch ist über­wälti­gend gut, spek­takulär, fabel­haft, erstrangig und einzi­gar­tig. Alles passt auss­er der deutsche Titel. Wie ein Ver­lag dazu kommt, aus «Sangue gius­to» – richtiges Blut, das ich mit «recht­es Blut» deute, zu einem «Alle, auss­er mir» zu machen, ist regel­recht empörend dumm. Zumal die Über­set­zung von Esther Hansen sen­sa­tionell gut ist. Francesca Melandri erzählt über 100 Jahre ital­ienis­che Geschichte in Krim­inal­tem­po und mit höch­ster Poe­sie. Kein ander­er Autor (dass Melandri eine Frau ist, wird ihr in Deutsch­land jeden Preis ver­miesen – als Mann hätte sie mit einem der­ar­ti­gen Werk alles zuge­wor­fen bekom­men …) gibt ange­berischen Poli­tik­ern, gut frisierten Repor­terin­nen, ver­durs­ten­den Kindern, Müt­tern mit leeren Brüsten und erlosch­en­em Blick, herzensstar­ren Fam­i­lien­mit­gliedern, hell­sichti­gen Poet­innen stim­mige Ton­la­gen, Wort­wahl und Charak­tere. Ihren Stil würde ich mit fabel­hafte poet­is­che Präzi­sion kennze­ich­nen. Ich kon­nte die 604 Seit­en nicht wegle­gen und werde nicht drum herumkom­men, Melandri im Orig­i­nal zu lesen. Doch lassen wir sie sel­ber sprechen. Sie merken sofort, was die unendliche Qual­ität dieser grossen Neuent­deck­ung für mich aus­macht. Melandri spricht über ihr Vier­tel (S. 161/162):

«Oft waren die Fernsehkam­eras der Region­alsender mit gut frisierten Repor­terin­nen anwe­send, die garantiert in anderen Vierteln wohn­ten, sich aber irre inter­essiert an ‹dieser neuen Real­ität› zeigten. In ihren Beiträ­gen wie auch in den Artikeln der römis­chen Tageszeitun­gen wur­den mit viel Enthu­si­as­mus und zivil­bürg­er­lichem Eifer Worte wie Tol­er­anz, Ver­such­sla­bor, Zusam­men­leben, mul­ti­kul­ti benutzt. (…) Illar­ia sieht die Dinge ein biss­chen anders. Ihr Wohn­vier­tel, in dem sie seit Jahrzehn­ten die Milch in der Bar unter ihrer Woh­nung kaufte, wie eine Bek­loppte einen Park­platz suchte, ein paar Worte mit den Nach­barn wech­selte, auf dem Bürg­er­steig den Hun­dekacke-Slalom vollführte, dieses Vier­tel kon­nte nichts dabei gewin­nen, in die dünne Sphäre des Sym­bol­haften kat­a­pul­tiert zu wer­den. Die Kinder, die sie täglich unter­richtete, teil­ten sich seit der Grund­schule die Schul­bank mit Chi­ne­sen, Marokkan­ern, Philip­pin­ern und Ital­ienern, doch sie hätte nie bemerkt, ein Ver­such­sla­bor des Zusam­men­lebens zu sein. Was sie aber bemerk­te, war das Regen­wass­er, das seit let­ztem Herb­st durch ein Loch in der Decke der Turn­halle tropfte, und dass das Geld für die Reparatur, das von Kom­mune, Schu­lamt und Min­is­teri­um zugesichert wor­den war, nicht floss, das schon. Solche Reden waren ihr genau­so sus­pekt wie die schein­bar gegen­sät­zlichen Reden, die sie mit­tler­weile für kom­ple­men­tär hielt und in denen die Orts­beze­ich­nung Esquilin stets mit den Begrif­f­en Ver­fall und Über­frem­dung kom­biniert wurde. Sie hat­te den Ein­druck, bei­de dien­ten bloss der Unter­mauerung vorge­fer­tigter Welt­bilder und weniger dem konkreten Leben der Bewohn­er. Pro­pa­gan­da.»

Francesca Melandri ist der Roman der Stunde und weit darüber hin­aus gelun­gen: Ital­iens Rechte, Berlus­coni, Flüchtlingskrise, deren Zusam­men­hang mit der ital­ienis­chen Kolo­nialgeschichte und zeit­genös­sis­ch­er Poli­tik, ja selb­st guter Sex kom­men nicht zu kurz. Nervig sind allein die schö­nen Män­ner, doch alas und seufz: Ital­iener sind nun mal in der Regel so gut ausse­hend, dass man ihnen alles vergibt, selb­st die Zuge­hörigkeit zur falschen Partei. Gen­derthe­o­retik­erin­nen wür­den sich­er entrüstet auf­schreien, doch die atem­ber­aubende Poe­sie bei Melandri pari­ert jede Klugscheis­serei. Sie skizziert die anpasserische, kriechgeistige Unter­w­er­fung der Intellek­tuellen im Dien­ste des Duce so bril­lant, dass ich Ihnen zeit­genös­sis­che Namen des­sel­ben Typus nen­nen kön­nte. Dieses «Bew­erte mich» war schon vor 100 Jahren so wichtig wie heute und bleibt Humus für alle dik­ta­torischen Sys­teme.

«Ich ver­traue ihm», meinte Ani­ta (eine der zahlre­ichen dum­men Ehe­frauen in diesem Roman): «Ein so reich­er Mann hat es nicht nötig, zu klauen.» Sie redete von Sil­vio Berlus­coni. Sie sollte sich irren.

«Sangue gius­to» ist ein phänom­e­nal gutes Buch: Lesen!

Artikel online veröffentlicht: 8. Oktober 2018