Von Thomas Kohler — Der Erste Weltkrieg setzte vor 99 Jahren der Belle Epoque ein jähes Ende. Doch die schöne Epoche ist auch heute noch zu finden. Bloss in Spurenelementen zwar – aber in wahren Kleinoden.
Ein oder zwei Mal im Monat leiste ich mir einen persönlichen Kostümball. Ich werfe mich in meinen Nadelstreifenanzug mit Gilet – schwarz mit weissen Streifen. Kein modischer Kram in Grau und schon gar nicht Braun mit beigen Streifen. Dazu ein weisses Hemd mit gestärktem Kragen und mit Ärmeln, die bis übers Handgelenk hinab reichen. Auf die Krawatte pfeife ich. Die ist mir altem Sozi zu bürgerlich.
Schliesslich poliere ich noch kurz meine schwarzen Schuhe und mache mich auf den Weg. Im Bus falle ich als leicht «overdressed» auf. Kein Wunder: Ich steige in der Lorraine ein, dem klassischen Berner Arbeiterquartier. Aber was solls? Franz der Erste in Rom fährt ja auch Bus. Und der pflegt einen Dresscode, der weit exorbitanter ist als meiner. Schon drei Stationen später, am Bahnhof, mutiert meine altväterische Aufmachung ohnehin zu respektablem Chic. Vor der Fassade des frisch aufgetakelten Luxushotels «Schweizerhof» wirke ich nicht mehr kostümiert, sondern gekleidet. Das könnte der Soutanenträger und erste Vorsitzende des Vatikans nicht so ohne weiteres von sich behaupten. Auch nicht seit er sein Ferrari-rotes Käppi gegen ein dezenteres Eierschalen-weisses eingetauscht hat.
Eine stilechte Drehtür aus Holz, Glas und Messing schaufelt mich in «Jack’s Brasserie». Und sogleich finde ich mich in der schwülstigen, auf Hochglanz gewienerten und gebügelten Atmosphäre der Belle Epoque wieder. Schneeweisse Tischtücher strahlen mich an. Die Sitzmöbel sind mit glänzendem Stoff gepolstert. Und überall schaffen gedämpfte Lampen aus mattem Glas eine wohlige Atmosphäre. Man kennt das aus den Schlussszenen der Harry-Potter-Filme mit den traditionellen Festessen. Ich fühle mich wie Alice (Cooper) im Wunderland.
Kein Riesenhase kommt angehoppelt und auch kein verrückter Hutmacher ist zu sehen. Statt dessen fliegt eine Kellnerin herbei. Die Haare im strengen Dutt ins Genick verbannt. Angetan mit weissem Hemd, weisser Schürze und schwarzer Bundfaltenhose, erkundigt sie sich freundlich, mit welchem Getränk sie mir den Tag versüssen kann. Dann nickt sie mit einem kleinen, wissenden Lächeln. Ich bestelle immer dasselbe: «Kaffee. Eine Portion, bitte.»
Da klingt sie wieder an, die Belle Epoque: Kaffee oder Tee liessen sich die dekadenten Adligen und die nicht minder behämmerten Grossbürger um die vorletzte Jahrhundertwende nicht in Tassen, sondern in Kannen servieren. Genau das baut die Service-Angestellte des «Jack’s» nun vor mir auf. Eine Kanne Kaffee und eine Kanne heisser Milch aus glänzend weissem Porzellan, daneben eine ebenso weis-se Tasse. Zur «Portion» gehört noch eine besondere Wohltat: ein süsses Madeleine-Gebäck, serviert auf einer winzigen Porzellanschale, die aussieht wie ein Kanu, das über das randlose Meer des runden Tisches gleitet. Ich ertappe mich beim bangen Gedanken, ob ich nicht vielleicht doch eine Krawatte…? Oder wenigstens eine Fliege?
Nix da. Adel und Grossbürgertum sind mir fern. Und auf ein Kleidungsstück, das keinerlei Funktion erfüllt, kann ich verzichten. Wer einwirft, da hätte ich auch gleich mein Gilet zu Hause lassen können, irrt gewaltig. Das Gilet spannt sich über meine Wampe und tarnt gütig den Bogen, den sie über meinem Gürtel schlägt. Dicke wissen um den Trompe‑l’Oeil-Effekt längslaufender dünner Streifen und machen sich ihn zu Nutze.
Ich gestehe: Ich bin Basler. Dementsprechend würde ich mein Eintauchen in die Belle Epoque hier in Bern gerne mit standesgemäs-ser Lektüre krönen und eine alte Nationalzeitung aufschlagen. So hiess die Zeitung meiner Kindheit, bevor sie zur läppisch kantenlosen BaZ verkam (und nun sogar in die Hände eines Ostschweizer Patrons von mitunter gründerkapitalistischem Zuschnitt geriet). Die Lieblingsseite, die mich meine ganze Kindheit über begleitete, war die Kinderbeilage der Nationalzeitung. «Dr glai Nazi» (die hiess wirklich so) erschien am Mittwoch und war am Donnerstag das Tagesgespräch in meiner Primarschule. Der kleine Nazi, dessen Name keinerlei politischen Hintergrund hatte, sondern als Diminutiv von «Nationalzeitung» gedacht war, erschien von 1926 bis 1977 – unverändert selbst durch die Zeiten des grauenhaften Dritten Reichs.
In der Belle Epoque wäre jegliche Zeitung nur gebügelt an den Tisch der lesehungrigen Gäste gelangt. Bis heute bügeln britische Butler die «Times», bevor sie das Blatt ihren Lordschaften zur Erquickung darreichen. Das Bügeln mag aus optischer Notwendigkeit erfolgen – angesichts der oft eher formlosen Weise, in der Zeitungen heute in die Briefkästen gestopft werden. Es soll aber auch praktische Gründe haben: Gebügelte Druckerfarbe hinterlasse auf den Kleidern und an den Fingern der Leserinnen und Leser weniger leicht unschöne Spuren.
Gäste, die im «Jack’s» einkehren, dürfen eines niemals auslassen – den Gang zur Toilette. Dort glänzen Marmor, Porzellan und Gold um die Wette. Und was Pflicht ist, wird hier zur Freude: Beim Händewaschen entdecken der Kaffeeliebhaber oder die Freundin des gepflegten Tees den Duft elegant parfümierter Seife. Schliesslich hebt noch ein Highlight die Laune der Ausgetretenen. Sie dürfen ihre nassen Hände an kleinen, blütenweissen Frottétüchern trocknen, die gleich stapelweise bereit liegen. Die Tücher wirft man nach Gebrauch in einen grossen Wäschekorb neben dem Lavabo. Was sind schon teure Autos, Jachten oder Wohnpaläste verglichen mit solchem Luxus?
A propos Luxus: Teuer ist der Spass in «Jack’s Brasserie» nicht. Die Portion Kaffee (sie reicht für mindestens zwei grosse Tassen) kostet zehn Franken. Das ist weniger, als man für zwei Tassen Milchkaffee und ein Brötchen im unterirdischen Bahnhofrestaurant gleich gegenüber zu berappen hätte.
Wer tiefer in die Tasche greifen mag, kann den Glanz der Belle Epoque in Bern noch eindrücklicher erleben. Im feinen, komplett stilecht eingerichteten Hotel «Belle Epoque» würden sich Zeitgenossen wie der Sherlock-Holmes-Schriftsteller Conan Doyle, Maler wie Gustav Klimt, Alfons Muchat und Audrey Beardsley, die Komponisten Claude Debussy und Erik Satie, oder gar Charlie Chaplin als Vagabund mit Stock und Melone wie zu Hause fühlen.
Ganz im Geist der Belle Epoque tickt auch das Café Schober im Zürcher Niederdorf. Zwar wurde das einstige Lieblingslokal eines gewissen Wladimir Iljitsch Uljanow, später besser bekannt als Lenin, kürzlich im Zuckerbäckerstil renoviert und erinnert jetzt eher an eine amerikanische Hochzeitstorte als an ein Denkmal der Belle Epoque. Wer gewillt ist, die Orgie in Pastell an den Wänden wohlwollend in Kauf zu nehmen, kann sich der Jahrhundertwende-Epoche dort aber noch immer nahe fühlen.
Etwas Besonderes bietet die Region um Kandersteg in Sachen Jugendstil: die alljährliche Belle-Epoque-Woche. Zum Programm gehören der tägliche «Thé dansant», Fahrten in alten Luxuszügen bis hin zu Korsett-Modeschauen. Im kommenden Jahr (vom 19. — 26. Januar 2014) sollen der Film und die Fotografie Schwerpunkte im Festprogramm der Woche bilden.
Liebhaber der Belle Epoque können ihre Lieblingsepoche auch auf Tagesausflügen anklingen lassen. Auf den Schweizer Seen kreuzt regelmässig eine beachtliche Flotte von 15 Raddampfern. An Deck vieler dieser Dampfer befinden sich Restaurants, eingerichtet mit viel Plüsch, dicken Teppichen und Intarsien-gespickten Hölzern an den Wänden. Häufig sind diese Prunksäle leer, weil heutige Touristen in ihren T‑Shirts sich einzutreten scheuen. Das ist aber falsch, denn dort werden nicht nur teure Menüs serviert. Die Kellnerinnen und Kellner tischen auch gerne nur Kaffee auf. Belle Epoque von internationalem Zuschnitt erleben kann man gar auf dem Genfersee: Auf dem Raddampfer «La Suisse» in Lausanne ablegen, im Plüschsalon ein Glas Chardonnay geniessen und sich danach im Casino des Jugendstil-Städtchens Evian ein Spiel am Roulette-Tisch gönnen.
Auch in diversen Schweizer Luxushotels können Besucher den Stil der Belle Epoque noch finden. Eines dieser Häuser ist das «Hotel des Trois Rois» in Basel, ein anderes das «Grand Hotel» in Locarno. In vielen Schweizer Touristenzentren gibt es ähnlich luxuriöse Plüschkästen. Aber manche davon vereinen ein Sammelsurium an Stilen und entsprechen nicht mehr wirklich der Belle Epoque. Das «Jungfrau Victoria» in Interlaken etwa tendiert zum späteren Art-Déco-Stil oder zu japanisch inspirierten Räumen, und das «Badrutt’s Palace» in St. Moritz bietet Freistil-Kitsch von fast Neuschwansteinscher Dekadenz.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2013