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Das Schweigen der Summer

Von Patrik Etschmay­er - Erin­nerun­gen sind immer etwas prob­lema­tisch, denn das Gedächt­nis spielt einem allzu gern Stre­iche. Wir biegen Erleb­nisse zurecht, ändern unsere Rolle in Liebes­dra­men unser­er Ver­gan­gen­heit (und wan­deln uns dabei vom ambiva­len­ten Charak­ter zum tragis­chen Helden) und erfind­en oder vergessen Dinge nach unserem Geschmack. So gilt es, aufzu­passen, wenn man über die Ver­gan­gen­heit spricht.

Doch der Autor macht es trotz­dem und erin­nert sich an Som­mertage vor vierzig Jahren, als er mit seinem Vater durch die Wälder der Steier­mark wan­derte, auf kleinen Pfaden Hügel hin­aufk­let­terte und die würzi­gen Gerüche des Tanns genoss, Hände voller Hei­del­beeren, die am Wegrand an ihren niedri­gen Büschchen sprossen, in den Mund stopfte und den unglaublich waldig-harzi­gen Geschmack dieser Geschmacks­bomben genoss, während man auf der Suche nach Eier­schwämm­chen war.

Die «Schwammerl­jagd», wie man das Sam­meln dieser kleinen, blu­mig-exquis­it schmeck­enden Pilze auch nan­nte, kon­nte einen stun­den­lang durch den Wald führen, vom einen bekan­nten «Schwammerlplatz» zum näch­sten, immer höher hin­auf durch die blauschwarzen Tan­nen, an grün leuch­t­en­den Lich­tun­gen vor­bei, die von Him­beerdic­kicht über­wuchert waren, bis man irgend­wann auf der Hügelkuppe ankam, wo irgen­dein Förster gefun­den hat­te, dass dort ein Bän­klein hinge­hörte, gez­im­mert aus einem der Länge nach hal­bierten Zweime­ter­stück eines Baum­stamms, ganz vorn auf einem der weni­gen Felsvor­sprünge ste­hend, die mitunter aus den anson­sten sinnlich gerun­de­ten Hügeln her­aus­ragten.

Dort liess man sich auss­er Atem nieder, kramte aus dem Ruck­sack die Plas­tik­flasche mit dem gesüssten Tee her­vor (nein, Zehn­jähri­gen gibt man keinen Flach­mann zur Wan­derung mit!), die belegten Sem­meln mit Extrawurst und Schinken (mit Gurk­erln natür­lich, denn das war Öster­re­ich) und genoss schweigend die Jause.

Weit unten, um die 400 Höhen­meter tiefer und zwei Kilo­me­ter vor uns, lag das Liesing­tal, durch das damals eine Land­strasse mit nicht wenig Verkehr führte – doch zu hören waren die Autos nicht. Lediglich die lan­gen Güterzüge, die drüben auf der anderen Tal­seite passierten, schafften es, ihr met­allis­ches Zis­chen bis zu uns her­auf zu senden. Und doch herrschte keine «Waldesstille», son­dern etwas viel Sub­stanzielleres. Da war natür­lich mal der Gesang der Vögel, doch die Luft, ja die Welt um uns herum war erfüllt von einem viel­stim­mi­gen, aber homo­ge­nen Sum­men, das Him­mel, Bäume, Sträuch­er und Mat­ten erfüllte. Es waren gefühlte Mil­liar­den von Stim­men, die von den Insek­ten zeugten, die hier über­all präsent waren, zwis­chen Blu­men und Gräsern, Ästen und Blät­tern herum­schwirrten, krabbel­ten und flat­terten. Schmetter­ling tru­gen zwar nichts zu dieser Stimme des Lebens bei, waren aber doch all­ge­gen­wär­tig. Tagp­faue­nau­gen, Schachbret­ter, kleine Füchse, Kohlweisslinge und dann die ganzen Arten, deren Namen ich nicht kan­nte, von denen mir die kleinen Blauen am lieb­sten waren, die an Wasserpfützen sassen, tranken und wie mit einem Föhn ange­blasene Kon­fet­ti in die Luft hin­aufwirbel­ten, wenn man zu nahe kam. Ver­mut­lich waren das «Prächtige Bläulinge», ich werde es nie wis­sen.

Jet­zt, vierzig Jahre später, ver­schlägt es mich fast jedes Jahr in den Ferien wieder in die gle­iche Gegend. Doch jet­zt herrscht Stille in den Wäldern. Manch­mal ist leis­es Sum­men hör­bar, aber fast schon gespen­stisch leise, eher wie ein Echo aus ein­er Zeit, die mal war, wie ein Ruf aus der Ver­gan­gen­heit. Doch dies würde mir nicht auf­fall­en, hätte ich nicht diese Erin­nerung an den anderen Sound­track der Natur in mir. Jenen, der nicht nur das Rauschen der Bäume, das Rascheln der Blät­ter und das Wis­pern des Windes ein­schloss. Und die kleinen Blauen? Wo sind sie hin?

Und dann fragt man sich: War das nur Ein­bil­dung? Eine falsche, einge­bildete Erin­nerung? Sozusagen Duffy Duck in Dis­ney­land? Doch dann fällt einem noch etwas anderes ein: das Rit­u­al, das damals bei jedem Tanken des Autos anstand, näm­lich die Wind­schutzscheibe von den sterblichen Über­resten jen­er Insek­ten zu befreien, die es auf der Fahrt zerk­latscht hat­te. Gelbe und rote Fleck­en die grösseren, eine grosse Samm­lung klein­er schwarz­er Punk­te die anderen, und mitunter flat­terten die Flügel noch weit­er, während der Fahrt, wenn es das arme Viech nicht völ­lig zer­legt hat­te. Die Frontscheibe war jedes Mal ein Mas­sen­grab dieser Tierchen, die zur falschen Zeit die Strasse hat­ten über­fliegen wollen und es nicht auf die andere Seite geschafft hat­ten.

Wenn ich heute nach 600 Kilo­me­tern an eine Tankstelle fahre, sind Insek­ten auf der Wind­schutzscheibe kein The­ma. Natür­lich wird die Scheibe mal dreck­ig. Aber Kerbti­er-Kom­pott? Nicht wirk­lich rel­e­vant im heuti­gen Mit­teleu­ropa.

Diese sub­jek­tiv­en Ein­drücke wur­den jet­zt bru­tal bestätigt: Eine deutsche Studie stellte fest, dass in den let­zten 27 Jahren die Bio­masse der Flu­g­in­sek­ten in Schutzge­bi­eten um 75 bis 80 Prozent abgenom­men hat. Wie es ausser­halb dieser Gebi­ete ste­ht, will man gar nicht wirk­lich wis­sen. Schuld daran sei ver­mut­lich die inten­sive Land­wirtschaft – und hier geht es wirk­lich ans Lebendi­ge –, und der Gebrauch von hochef­fek­tiv­en und öko­tox­is­chen Pes­tiziden wie den berüchtigten Neon­i­coti­noiden dürfte einen wesentlichen Anteil an diesem Massen­ster­ben haben. Das einzig Gute daran ist: Die Insek­ten­pop­u­la­tio­nen soll­ten sich, wenn die Ursachen dieses Mas­sak­ers eli­m­iniert wür­den, schnell wieder erholen. Doch dazu ist ein Ver­bot dieser Gifte unabläs­sig.

Natür­lich, das Argu­ment dage­gen ist die Nahrungsmit­tel­sicher­heit: Doch die totale Ver­nich­tung der Insek­ten – und diese scheint greif­bar nahe zu sein – wäre für diese noch ver­heeren­der als die möglichen Frasss­chä­den. Geschenkt, man mag das Sehnen des Autors als roman­tisierten Quark betra­cht­en; aber es wäre schön, wenn meine Kinder irgend­wann wieder dieses Sum­men hören kön­nten, diese Stimme des Lebens, die hier draussen in der Natur eigentlich jeden Som­mer erfüllen sollte.