Von Lukas Vogelsang – Nicht durch den Brand der Notre- Dame, sondern durch die Solidaritätswelle, mittels welcher in 48 Stunden eine Milliarde Euro gesammelt wurden für die Renovation der historischen Kirche und womit eine unglaubliche Kraft demonstriert wurde, ist es wärmer geworden auf der Welt. Der Geldberg ist komplett absurd für ein Gebäude, wenn dieses auch historisch und kulturell wertvoll ist. So viel hat nicht mal der Neubau der Elbphilharmonie in Hamburg gekostet und schon dort waren es JuristInnen, die am meisten verdienten, nicht die Bau- oder Renovationsfirmen. Eine Milliarde – das muss man sich mal gut vorstellen – braucht einen enormen Verwaltungsapparat, damit das Geld korrekt und zweckgebunden für die Sache ausgegeben und verwaltet wird. Wir können uns die Zahl im Kopf gar nicht bildlich denken. Rund um die Notre-Dame gab es zum Teil Kommentare, die meinten, dass es wirklich wichtig sei, die historische Orgel nach dem Brand wieder zu putzen. Sicher, das steht doch ausser Frage. Aber die Orgel hat das Feuer so weit schadlos überstanden – und für die Putzarbeiten der rund 8 000 Pfeifen kann man gut und gerne zwei Millionen budgetieren. Dann verbleiben aber immer noch 998 000 000 Millionen.
Ich war einen Tag nach dem Brand in Paris und ein Taxifahrer erzählte mir mit Stolz, dass auch er gespendet habe. In meinem Kopf begann ein Widerstand zu zappeln. Ich erinnerte mich, dass wir erst vor ein paar Monaten mit der Gilets-jaunes-Bewegung mitfieberten und uns fast solidarisierten. Frischen wir unsere Erinnerung auf: Die Gilets jaunes protestierten gegen den Staat und dessen MachthaberInnen, weil die «Kaufkraft» von vielen Französinnen und Franzosen am Ende eines Monats prekär unter deren Lebenswürde gesunken ist. Die Unzufriedenheit ist gross, die Symbolik ebenfalls und die Diskussion war lanciert – sogar in ganz Europa. Beim Brand der unbestritten historisch und kulturell wichtigen Notre-Dame wurden innert 48 Stunden fast eine Milliarde Euro an den Staat gesprochen für die Sanierung des Gebäudes. Plötzlich standen Superreiche, Mächtige und Mitglieder der Gilets jaunes auf der gleichen Seite. «Der kleine Mann», der noch ein paar Wochen zuvor ein Schild in die Höhe hielt, spendete sein Geld, und die Superreichen, wie die Milliardärsfamilien Pinault (Gucci, Yves Saint-Laurent) oder Arnault (Dior, Louis Vuitton), inszenierten sich mit Klotzbeiträgen. Das Geld fliesst allerdings genau in die Richtung jener MachthaberInnen, welche es bisher nicht für wichtig hielten, den MitbürgerInnen ein besseres Leben zu ermöglichen: zum Staat. Das Geld wurde gespendet, und damit kann sich die französische Elite wiederum inszenieren und den Machthabern aus dem Vatikan, welche vom Weltvermögen gut und gerne geschätzte 30 Prozent besitzen, ein Kirchensymbol bis zur Vergoldung sanieren. Wie absurd ist das denn! Wem hier keine Fragen in den Sinn kommen, dem ist nicht zu helfen.
Doch da ist noch ein anderes Symbol aufgetaucht: Zwar sind uns Steine und Holzgebälk vordergründig wichtiger als alles Lebendige auf diesem Planeten, doch Notre-Dame hat uns merken lassen, wie eigenartig wir geworden sind. Stein und Holz – in diese Kategorie fallen auch Roboter und Computerprogramme wie Facebook – sind keine Menschen. So was muss man heute wieder laut sagen. Doch Solidarität hat menschliche Züge. Und diese scheint mir in der emotionalen Überreaktion dieser Spendenaktion sehr deutlich sichtbar geworden zu sein: Der Mensch ist nicht weniger solidarisch geworden in all den Jahren. Eine gute Nachricht! Er weiss nur nicht mehr, wie er damit umgehen soll. Und bevor wir jetzt beginnen, alles Mögliche niederzufackeln, um durch diese freigesetzten Energien nach unserem Individualisierungswahn wieder zu Gesellschaften zurückzufinden, sollten wir uns überlegen, wo wir entgleist sind, dass wir uns an unsere Menschlichkeit nur noch durch Mahnmale erinnern können.
Das grosse Frühlingserwachen in diesem April für mich war: Wir Menschen möchten eigentlich miteinander leben, aber wir wissen nicht mehr, wie. Vielleicht haben wir Angst bekommen, weil wir in der Geschwindigkeit des Alltags die Kontrolle verloren haben. Vielleicht haben wir uns mit zu viel Stein und Holz umgeben und uns überfordert damit. Aber für mich war die Hoffnung sicht- und greifbar. Grund genug also, in diesem Sommer auf Menschen zuzugehen, auch auf jene, die wir nicht kennen oder die anders denken. Das wird mehr werden als nur ein Symbol aus Stein und Holz.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 197, Mai 2019