Von Till Hillbrecht — Dem Nicolaischen Laboratorium für Feinton-Belastung entkeimt ein neues Album: Keine Frage, Carsten Nicolai gehört zu den facettenreichsten Künstlern unserer Zeit. Der Labelchef, bildende Künstler und Musiker aus Berlin tanzt solide auf verschiedenen Hochzeiten: Bereits seine Malereien und Installationen in den 80er-Jahren weisen starken musikalischen Charakter auf. Die verschiedenen Hochzeiten sind bei genauerer Betrachtung dann doch nur eine einzige: Nämlich die konsequente Prozession eines persönlichen künstlerischen Prinzips, aus dem unterschiedliche Projekte verschiedenster Gattungen entspringen. Nicolais gesamtes Werk, welches 2005 erstmals in einer Überblicksausstellung gezeigt wurde, ist eine physische, experimentierfreudige Auseinandersetzung mit Strukturen und seriellen Mechanismen. Bereits seine frühen Arbeiten als bildender Künstler weisen einen stark sequenziellen Charakter auf, den Nicolai selber als Teil universeller Gesetzmässigkeiten sieht, die zu brechen aber im Pakt mit einer Art natürlicher Kreativität stehen: «Viele meiner Arbeiten unterliegen einer Regel und beinhalten Modellcharakter. Das Modell als Ordnungsprinzip um chaotische Bewegungen erkennen zu können. Mich interessieren diese beiden Momente, sie liegen ungeheuer nah nebeneinander.»
Als Musiker unter dem Pseudonym Alva Noto (zuvor nur Noto) veröffentlichte Carsten Nicolai bisher über 20 Alben auf seinem Label «Raster-Noton – Archiv für Ton und Nichtton». Die Berliner Plattform für experimentelle Musik, namentlich der «Clicks&Cuts»-Szene, gilt heute als eine der weltweit wichtigsten Produktionsstätten solider elektronischer Klangwerke. Vorausgegangen waren die beiden Labels Rastermusic und Noton, deren beide Inhaber Olaf Bender (Rastermusic) und Nicolai (Noton) zu einem Label zusammenspannten, und bis heute gemeinsame Sache im Musik-Kollektiv «Signal» machen.
Die entzückende Reduktion in der Klangwelt des Alva Noto Nicolai betreibt eine stark wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kunst. Daraus folgen algorithmische, kettenreaktionäre Gebilde als Basis für sein Schaffen. Gerade für seine installativen Arbeiten bedient sich Nicolai prozessualen Vorgehensweisen um physische Gebilde zu konstruieren.
Nicht nur sein visuelles Schaffen ist sehr physisch, auch Nicolais‘ Soundstrukturen arbeiten in stark raumgedachten Dimensionen, indem er sein Klangmaterial an gegenüberliegende Pole heftet: Frequenzen, die gerade noch im höchsten hörbaren Bereich liegen, stellen sich dem Schlagabtausch mit akribisch fein getrimmten Bewegungen im Subbassbereich. Polarisierend sind auch die selten abweichenden, rhythmischen Bewegungen seiner partikelartigen Grooves aus Strom- und Störgeräuschen. Die statische, vertikale Klanglegierung ist sorgsam homogen gehalten, und es fallen jene Sounds auf, die darin gar nicht vorkommen: Nicolais Kompositionen arbeiten auf eine gewisse Weise mit Negativ-Klangräumen, die zu füllen eine Schande wäre. Gemüts-zustand beim Anhören von Nicolais Alben? Relativ neutral, angenehm neutral. Denn in diatonische, harmonischere Gefilde bewegt sich Alva Notos Musik nur, wenn er einen Kollaborationspartner hat, der sich in diesem Bereich auskennt. Da wäre zum Beispiel Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten zu nennen, der vor Jahresfrist zusammen mit Carsten Nicolai das fulminante Album «ANBB» aufgenommen hat. Wenn Vokal-Künstler Bargeld darauf «One is the loneliest number» zu synthetischen Pad-Sounds trällert, wird sogar eine solide Pop-Nummer Teil des hübsch strukturierten Nicolaischen Chaos-Masterplans. Das Lied, notabene, ist ein Cover von Harry Nilssons «One» aus dem Jahre 1968. Empfehlenswert auch das Original.
Weiter zu nennen als meisterhafte Kollaboration ist das Gespann Alva Noto & Ryuichi Sakamoto, welches sich bereits mehrfach bewiesen hat. Neuestens auf dem ebenfalls 2011 erschienen Album «Summvs», dann zwischenzeitlich auf «utp» (2008), zusammen mit dem Kammerorchester «ensemble modern» und als erste gemeinsame Arbeit auf «insen» und «vrioon» (2004). Der Erfolg des japanischen Avantgarde-Pianisten und des Deutschen Soundtüftlers beruht wohl auf der virtuosen Behandlung ihrer Instrumente und dem beinahe lückenlosen Wissen, wie weit sie sich mit ihrem Klangraum ausweiten können und dürfen, ohne sich gegenseitig auszuliefern. Ryuichi Sakamotos feine Akkorde, vorsichtig angedacht zwischen Erik Satie und reduziertem Free-Jazz, bieten diesmal nicht den Pol, sondern die Ergänzung zu Alva Notos Klangschichtung, die teilweise aus manipulierten Samples aus Ryuichis Klavierspiel stammt. In der Regel aber bleiben Notos Sounds weit entfernt von allem, was einem Instrument im klassischen Sinne klanglich nahe kommen könnte.
kompakt/lose, langsam/schnell, sehr hoch/sehr tief: Das neue Album «univrs» Unter dem Titel «Univrs» ist in diesem Oktober nun das jüngste Album von Alva Noto veröffentlicht worden. Es umfasst 14 Stücke, die allesamt mit dem Präfix «uni» im Titel beginnen, die sich in ihrer Klangmaterie im wesentlichen auf manipulierte Knackser, Stör‑, Strom- und Spannungsgeräusche beschränken und die Ästhetik der nunmehr zwei Jahrzehnte Nicolaischer Minimalistik-Arrangierung beibehalten. Zum Glück: Das Werk ist das Resultat einer versierten Analyse musikalischer Dramaturgie, die mit reduzierten Mitteln prächtiger gedeiht als üppig orchestrierte Tanzmusik. Es ist die Gegenüberstellung von dicht geschichteter Feinton-Belastung und Stille, von weit gezogenem Tiefton-Puls und dem wilden Gestikulieren hoher Klangfragmente. Wie physisch dieses Werk ist, zeigt eine kleine Untersuchung seiner differenzierten Klanglichkeit, wenn man «univrs» über Laptop-Lautsprecher hört und danach über die etwas besser ausgestattete Musikanlage zuhause abspieltt – die extremen Frequenzbereiche, die einen beachtlichen Teil der Kompositionen ausmachen, können von den zartkleinen Membranen der Computerlautsprecher gar nicht erst wiedergegeben werden.
Mit den nicht immer ganz einfach zu verdauenden Musikproduktionen hat sich Raster-Noton schon seit Jahren eine solide Anhängerschaft geschaffen, die gerade im asiatischen Raum erstaunlich gross ist und schnell wächst. Erst seit wenigen Jahren aber mischen sich unter dieses spezialisierte Publikum für schräge Töne auch vermehrt Dancefloor-orientierte Nachtschwärmer. Zum Zirkel der populären Noise-Meister um das Label gehören neben Nicolai auch Ryoji Ikeda, Frank Brettschneider und Ben Frost. In einem der angesagtesten Dancefloor-Clubs der Welt, dem Berghain in Berlin, treten diese Künstler regelmässig vor vollen Rängen auf. Die totale Physikalität der Musik ist denn auch am ehesten Live zu erfahren, nicht zuletzt durch überdurchschnittlich hohe Dezibelwerte in gleissenden Höchstfrequenzen und druckvollen Subbassbereichen, die man dann vor allem in der Magengegend zu spüren bekommt. Wie Carsten Nicolai einmal so schön gesagt hat: Sein Kammerton ist die Frequenz der elektrischen Spannung von 50 Hertz. Ziemlich deutlich unter dem gängigen Konzertkammerton A mit 440 Hertz. Und persönlich befriedigend seien Klänge um 11100 Hertz, das entspricht der Tonhöhe beim Einschalten des Fernsehgerätes. Und die 440 Hertz liegen bei Alva Noto bestenfalls irgendwo ungehört in einem Off-Space.
Foto: Sebastian Mayer
ensuite, November 2011