Von Maja Beutler — Zum Roman Schwarze Kiste von Peter J. Betts: Der Plot des Romans Schwarze Kiste von Peter J. Betts gäbe einen reizvollen Krimi ab: Sechs blutjunge Leute verurteilen den gemeinsamen Freund Franz Xaver einstimmig zum Selbstmord. Ihre Schuld an seinem Tod bleibt unentdeckt, aber die sechs kommen ihrer Lebtag nicht mehr los voneinander:
Nur wenige Monate oder – genauer – Wochen nach der Beerdigung Franz Xavers gab es eine Tripelhochzeit: Franz Xavers Verlobte, Nelly Langenegger, und der Jungarchitekt Max Hadorn, der sich seit jener Nacht rührend um sie gekümmert hatte, wurden ein Ehepaar; Franz Xavers Schwester Anna heiratete den Bauschreiner Fritz Walker, und Rita Roser heiratete, unmittelbar nachdem sie ihre Matura bestanden hatte, Erwin Hadorn.
Sieht Trauerarbeit so aus? Noch vier Jahrzehnte später werden sich die sechs verschweigen, dass sie seit Franz Xavers Tod kein echtes Lebensgefühl mehr haben, sie schauen ewig zurück – sechs Salzsäulen.
Allerdings vermehrten sie sich und legten auch beruflich Durchsetzungsvermögen an den Tag, die Salzsäulen. Der Arzt zog mit Weib und Kind nach Australien und kehrte im Pensionsalter zurück; der Architekt und der Bauschreiner gründeten eine Firma für vorfabrizierte Ferienhäuser. Mithilfe der Ehefrauen, die beide Jus studiert hatten, gelang es sogar, sich international zu positionieren: Feriensiedlungen, worldwide, wie aus dem Spott-Song «Little Boxes» gehüpft – auf gut Schweizerdeutsch: «Chlyni Truckli, dert im Grüene//chlyni Truckli, gmacht us tygi-tagi//chlyni Truckli, chlyni Truckli// alli glych.»
Satt und reich geworden, ziehen sich die drei Paare mit 55 in ein luxuriöses Anwesen in Südfrankreich zurück. Franz Xaver wartet auch dort, und wird sie verfolgen bis in die nächste Generation.
Ein Psycho-Krimi, also. Bloss reizte es Peter J. Betts nicht, ihn zu schreiben. Es reizte ihn ebenso wenig, einen konventionellen Roman zu verfassen. Die verwobenen Handlungsstränge in Schwarze Kiste kreuzt er mit essayistischen Sondierungen in Gegenwart und Vergangenheit, wobei Betts zwischen den Jahren 1961 und 1996 vor- und zurückspringt, bis die Risse zwischen den Generationen sichtbar werden und, fast beiläufig, ein flirrendes Sittengemälde der Schweiz ergeben. Als Kontrast wirken landschaftliche Abstecher ins australische Brisbane, an die südfranzösische Küste und ins Innere Afrikas; es werden Tauchgänge und Ballonflüge beschrieben, Schiffe werden gebaut und Modellflugzeuge zusammengesetzt – welch ein Reichtum an Motiven. Und doch bleibt die Sprache gleichförmig, als ginge es Betts nur darum, lauter Attribute zu Papier zu bringen – die Leserinnen und Leser würden sich ihren eigenen Roman draus bauen. Schwarze Kiste als literarischer Modell-Baukasten oder als Vexierspiegel? Sicher ist, dass Betts Lesen und Schreiben als Arbeitsteilung versteht. Das spricht nicht nur für Autoren-Bescheidenheit, sondern für Wissen um Zusammenhänge: Es entscheidet sich im Kopf des Lesers, ob ein Roman flugtüchtig ist.
Und ausgerechnet Schwarze Kiste handelt von einem Absturz: Beim nächtlichen Picknick im Tuffgraben stürzte der 22jährige Franz Xaver Müller in die Tiefe, als er dem Freundeskreis demonstrieren wollte, wie sich ein Grenadier am kunstgerecht gespannten Seil über jede Schlucht hangelt.
Wird Schwarze Kiste nicht mit black box übersetzt? Nach jedem Flugzeugabsturz wird fieberhaft nach ihr gesucht: der Flugschreiber zeichnete sämtliche Flugbewegungen auf, der Voice-Recorder sämtliche Gespräche im Cockpit. Damit liessen sich möglicherweise Ursache und Hergang des Unglücks rekonstruieren:
«Was ist los, Erwin?» hatte Franz Xaver Müller gefragt.[…]
«Rita ist schwanger», sagte Erwin. Eine Reihe von unausgesprochenen Sätzen schien über das Gesicht Franz Xavers zu huschen, etwa wie «Ausgerechnet dir als Mediziner muss das passieren?» Was er sagte, war: «Darf man zur baldigen Hochzeit gratulieren?» «Ja», sagte Erwin wie abwesend. […] «Nimm’s nicht so schwer», meinte der Freund, «du bist weiss Gott nicht der erste, der heiraten muss. Es ist doch eigentlich eine tolle Sache. Ihr liebt einander. Ein Kind der Liebe. Denk daran, wie viele Paare vergebens versuchen …» «Nicht von mir», sagte Erwin Hadorn leise, «sie ist nicht von mir schwanger.» […] Rita Roser und Anna Müller betraten das Zimmer. Das Schweigen dauerte an. Dann ergriff Anna das Wort: «Franz Xaver, […] wir wollen uns nicht auf riesige Diskussionen einlassen. Du hast Rita im Suff vergewaltigt. Sie hat geschwiegen. Aber nun ist sie schwanger. Ersparen wir einander Vorträge über Moral, über Würde, über Menschlichkeit. Reden wir nicht davon, was es heisst, die Freundin des besten Freundes zu vergewaltigen. […] Eine simple Frage, mein Bruder: Was schlägst du vor, zu tun?» Alle vier standen sie. Nur Erwin rauchte. Nach einer Weile sagte Franz Xaver: «Ihr wolltet ja nicht hören, dass ich mich schäme. Wiedergutmachen kann ich es nicht. In solchen Fällen bleibt im Interesse aller wohl nur eine Abtreibung.» «Das Kind zu töten, schlägst du vor», sagte Anna, «wir haben uns anders entschieden. Das Kind kommt zur Welt – und du verlässt sie.»
Beim Lesen dieser Passage stellt sich der Eindruck ein, der Autor nehme tatsächlich die Haltung einer Black Box ein: Er liefert Fakten, Stimmen werden aufgezeichnet – aber damit wird die Crew psychologisch nicht fassbar, sie bleibt gesichts- und konturlos wie blinde Passagiere.
Sie sind im Buch zuvorderst aufgelistet. Und dieses Personen-Register ist nicht einfach leserfreundlich, es ist die sine qua non, um mit dem Autor nicht unwillig zu werden: Warum bleiben die Crew-Mitgleider über Jahrzehnte hinweg fast nur anhand ihrer Namen und ein paar angeklebter Berufsetiketten unterscheidbar? Warum ist ihr Wesen, ihr Körper, ihr alterndes Gesicht nie ein Wort wert?
Vielleicht wird beim Lesen so erfahrbar, dass die sechs tatsächlich austauschbar sind und nur vordergründig alle einen eigenen Kopf haben – little boxes: in allen stecken dieselben Ansichten, steckt dieselbe Zeit, steckt dasselbe Unleben. Und alle drehen sie wie Planeten um ihre Sonne Franz Xaver. Sie verzeihen ihm nie, dass er dem Bild plötzlich nicht mehr gerecht wurde, das sie sich von ihm gemacht hatten.
Peter J. Betts führt nur gerade Franz Xaver facettenreich vor und stattet ihn mit jener Leuchtkraft aus, die alle bezaubert und sie zugleich in den Schatten stellt. Sogar seine Schwester Anna, die er von klein auf zärtlich umsorgte und ständig im Schlepptau führte; kein Kollege hätte gewagt, sich über das innige Geschwister-Verhältnis lustig zu machen. Und ausgerechnet diese Anna machte Franz Xaver nach seinem Sprung ins Leere den Garaus mit einem Steinbrocken, den sie dem Schwerverletzten gegen die Schläfe schmettert.
Eigentlich unbegreiflich, dass im Tuffgraben nur Franz Xaver abgestürzt war und nicht beide Müller-Kinder.
Noch in jener schrecklichen Nacht hatte Fritz Anna fest an sich gedrückt, eine Anna, die offensichtlich vor Schmerz nicht weinen konnte. Noch in jener Nacht hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Sie hatte ihn lange angeschaut, verschmiert mit Franz Xavers Blut an Kleidern und im Gesicht, und hatte ruhig gesagt: «Ich bin schwanger, Fritz.» «Und?» hatte er gefragt: «Willst du mich heiraten?» Sie hatte ihn erneut lange angeschaut und schliesslich ja gesagt.
Anna wird Fritz ihr Leben lang verschweigen, wer der Kindsvater ist. Sie vertraut es weder ihrer Busenfreundin Nelly an, die doch Franz Xavers Braut gewesen war, noch Rita, die er vergewaltigt hatte. Ausser Fritz bleiben alle im Glauben, Anna sei nach der Hochzeit schwanger geworden. Ihr Töchterchen wird im kommenden Jahr geboren, und Fritz Walker bejaht die kleine Eva als eigene Tochter – Erwin bejaht fast zur selben Zeit das Söhnchen Hugo als eigenen Sohn, und wird seiner Frau Rita kein einziges Mal vorwerfen, Erzeuger sei Franz Xaver Müller gewesen. Was für zartfühlende Salzsäulen.
Allerdings passt ins Zeitgemälde der frühen Sechzigerjahre, dass nur wirklich ist, was ausgesprochen wird. Bitte, schweigen! Und falls es durch widrige Umstände trotzdem einmal zur Sprache kam, bscht, kein weiteres Wort drüber verlieren!
Oder gehört es zum Selbstbestrafungsmechanismus der Gruppe, nie explizit auf Franz Xaver zurück zu kommen? Nie mehr von der Unglücksnacht zu sprechen? Nie mehr vom Todesurteil, das gemeinsam gefällt worden war? Nie mehr vom Motiv – war es tatsächlich für alle die Vergewaltigung Ritas? Oder hatte jede und jeder einen persönlichen Grund? Salzsäulen. Nur in ihren Köpfen geisterte es und Franz Xaver redete und redete:
«Mir tut aus tiefster Seele leid, was ich euch allen angetan habe. Und es tut mir leid, was ich mir selber angetan habe. Prost miteinander!» Die Gläser klangen – wie immer.
«Ihr habt mich zum Tode verurteilt, weil Rita mein Kind erwartet. Für euch die einzig mögliche Lösung. Eine Abtreibung kommt nicht in Frage und ein Damit-leben offenbar auch nicht. Erwin wird Rita heiraten und der Vater des Kindes sein. Was stünde dem entgegen, wenn ich am Leben bliebe? Oder anders ausgedrückt: Wäre Rita nicht schwanger geworden, hätte sie vermutlich über den Vorfall nach jenem Waldfest geschwiegen, und an unser aller Beziehung hätte sich nichts geändert. […] Oder doch? Selbstgewiss haltet ihr mich für untragbar. Wenn ich mir ein Urteil erlauben darf: reichlich selbstgerecht, masslos überheblich.
Ich würde mich eurem Urteil weder beugen, noch es zu meinem eigenen machen, wenn ich es nicht für richtig hielte – von meiner eigenen Einschätzung meiner Person her. Ich glaube Seiten in mir zu kennen, die ihr nicht kennen könnt. Woher, um Gotteswillen, nehmt aber ihr eure Selbstgewissheit?»
Dank der Tiefenpsychologie weiss man, dass die geheimsten Wünsche der Eltern auf die Kinder überspringen und von ihnen gelebt werden. 1996 taucht in Südfrankreich völlig unerwartet die ganze Kinderschar der Salzsäulen auf – längst erwachsene Kinder natürlich, sechs sind es, wie die «Alten» sechs sind. Deren ewiges Zusammenhocken war den Jungen übrigens zuwider, «es hat so was Inzestuöses». Sie selbst leben über die Erde verstreut. Und warum kommen sie auf einmal in corpore nach Villefranche? Weil Eva und Hugo sie aufgeboten haben – diese zwei Erstgeborenen wollen ihre Verlobung offiziell bekanntgeben. Als Anna es hört, wird sie zum ersten mal im Leben ohnmächtig. Und vergisst beim Aufwachen das Schweigeverdikt; sie zieht ihre Tochter Eva ins Vertrauen: Eva Walker heisse sie zwar, aber sie sei das Kind des eigenen Onkels Franz Xaver Müller.
Es wird nicht beschrieben, was alles das Geständnis in Eva auslöst. Aber sehr wohl, was sich in der Nacht abspielt: Eva repetiert, was Franz Xaver im Tuffgraben tat: sie stürzt sich ins Leere. Allerdings schlägt ihr niemand einen Stein gegen die Schläfe, Eva darf überleben. Und in der Rekonvaleszenz abwägen, ob sie schlafwandelte oder über die Balustrade stürzte, weil… Ach, wie gut, dass niemand weiss. Es darf weiter geschwiegen werden. Und weiter geheiratet – heutzutage gibt es ja die Pille, und auch sie kann verschwiegen werden. Dem Bräutigam Hugo, beispielsweise: «Man» wird einfach kinder- und ahnungslos bleiben.
Warum Anna ohnmächtig wurde, wissen die Leserinnen und Leser längst: Eva ist nicht Hugos Cousine, sie ist seine (Halb-)Schwester. Als Franz Xaver ja sagte zum Urteil des Freundeskreises, schob er einen Satz nach: …weil (es) für mich Anlass ist, ein Problem zu lösen, das mich, seit ich denken kann, in Schrecken hält.
Schwarze Kiste ist auch ein Roman über die Fährnisse schwarzer Leidenschaft. Anna wusste, was ihren Bruder in Schrecken hielt, sie hat ihn nie verraten. Aber sie schmetterte den Stein gegen Franz Xavers Schläfe, weil er eine andere auch vergewaltigt hatte – was für ein Verrat. Bloss eines wusste Franz Xaver nie: dass er seine Schwester ebenfalls geschwängert hatte.
Kursives in diesem Text ist zitiert aus dem Buch: Peter J. Betts, Schwarze Kiste, Roman, 248 Seiten, Dittrich Verlag, Berlin
Foto: zVg.
ensuite, März 2011