Von PeterJ. Betts — Dass ich mit Alexander Egger befreundet bin, macht es schwierig, über seine Bewerbung um den «Fotopreis 2009 des Kantons Bern», genauer: über die Qualität der von ihm eingereichten Bilder, zu schreiben. Er hat keine Auszeichnung erhalten, weder einen DER beiden Preise, noch einen der drei Anerkennungspreise. Ein Trostpflaster vielleicht: Die für Fotografie zuständige Kantonale Kommission hat seine acht Bilder für ihr Archiv angekauft. Es handelt sich dabei um eine Serie von digitalen Kleinbildfotografien unter dem eher mehrdeutigen Titel «Deutschstunde». Sie sind/waren im Kornhaus zu besichtigen, wie die übrigen Eingaben. Dass ich während fünfundzwanzigjähriger Berufstätigkeit in der Förderung des Kulturschaffens gegenüber Kommissions- oder Juryentscheidungen (auch als Mitentscheidender) zunehmend und sehr nachhaltig skeptisch geworden bin, macht mein Vorhaben, über die Achterserie zu schreiben, ebenfalls nicht leichter. Selbstverständlich hat das Preisgericht (welch abscheulicher und nur allzu häufig zutreffender Begriff!) anders, AUCH anders, entschieden oder «(ab)geurteilt», als ich es getan hätte. Mein Entscheid wäre selbstverständlich ebenso anfechtbar gewesen. Ich kann hier das Ergebnis aber durchaus nachvollziehen oder anerkennen und finde es keineswegs einfach falsch. Ob ich Sie bei der Lektüre wieder einmal zu einem Ritt gegen die Windmühlen mitnehme? Die Preisträgerin und der Preisträger beherrschen beide ihr Metier; beide sind sie temporär fest (das schliesst einander heute keineswegs aus!) in den Förderungs- und Anerkennungszirkus inte-griert. Alles hier hat seine Logik. Frau Hametner ist durch ihre wunderschönen, formal perfekten Bilder, die Serie heisst «Aster», zur «Preisträgerin Fotopreis 2009» geworden. Ein durchaus vertretbares Urteil. Fünf ihrer zehn Bilder sind Nachtaufnahmen – verständlicherweise gehen mir die «Hymnen an die Nacht» von Novalis durch den Kopf, ohne dass ich beim Betrachten der Werke dem Weltsinn, etwa in Form seiner «Blauen Blume» (Heinrich von Ofterdingen), näher zu kommen vermag. «Preisträger Fotopreis 2009» ist Tobias Hitsch geworden. Seine zehn vorzüglichen, nicht nur spektakulären, sondern auch guten Bilder – treffen einen «Nerv unserer Zeit». Sie sind während seines sechswöchigen Aufenthaltes im Herbst 2008 im Gazastreifen entstanden. Es geht um Inhalte, die bei uns äusserlich nicht mehr tabuisiert sind, aber: Ganz so wohl ist es uns hier nicht dabei, etwa zur Kenntnis nehmen zu müssen: dass, während am 5. November 2008 die Medien der Welt (und wir) auf die Wahl des US-Präsidenten fokussiert waren, der Waffenstillstand seitens Israels ziemlich unbeachtet erstmals gebrochen wurde; oder dass die überlebensnotwendige Schmuggelarbeit nach Gaza durch Tunnel für zweihundertfünfzig Personen wegen Sauerstoffmangels und einstürzenden Stollen zum Zeitpunkt des aufgenommenen Bildes tödlich gewesen ist; und so weiter. Hitschs Können und sein Einsatz (Stellvertretend für uns? Folglich zu unserer Entlastung?) gegen das Missachten der Würde des Menschen und den Missbrauch seiner Grundrechte im Zuge der Globalisierung sind daher zweifellos auszeichnungswürdig. Eggers lakonischer, subtiler Kurzbeschrieb zu seinem Werk nimmt sich vergleichsweise bescheiden und diskret aus; oberflächlich gelesen, eventuell sogar etwas zu lapidar. – Und: Wer will schon lesen können? Egger schreibt: «Eine Frau und ein Mann treffen sich zur Deutschstunde in einer Beiz. Beide sind um die sechzig, er ist ihr Mündel. In der Deutschstunde schreibt er ein Diktat, dessen Inhalt, diktiert von seiner Beiständin, ihm mit guten Ratschlägen für den Alltag zu Hilfe kommt. Er ist ein einfaches Gemüt, summt ständig den gleichen Reim vor sich her. Sie hingegen ist intellektuell, Schriftstellerin und lebt wie er sehr zurückgezogen. Mit im Spiel neben Luna, der Hündin, sind auch gröbere Mengen gesetzlich erlaubter Drogen. Die Serie ist Anfang 2009 in Biel entstanden.» Seine Eingabe bedingt Lesenwollen und Lesenkönnen; im Text: zwischen den Zeilen, bei den Bildern: über das scheinbar Abgelichtete hinaus oder weit dahinter – an beiden Orten: mit dem Herzen, was eine wirkungsvolle Denkhilfe ist und zu Verstehen führen könnte. Mit seinen Bildern beschäftigt sich der Autor mit der Nacht, genauer: mit der Nachtseite des Lebens. Kein Hymnus. Auch hier wird man die Blaue Blume, mindestens an der Oberfläche, vergebens suchen. Auch diese Nacht ist nicht romantisch verklärt. Auch nicht mystisch. Nichts für feinsinnig verinnerlichte ÄsthetInnen, für die Inhalte zweitrangig oder zu belastend sind. Nichts für Schlagzeilen. Nichts fürs Rampenlicht. Aber: zentral. Im harten, ungeschönten Bildrealismus lebt hier Seele. Wer schaut, liest, denkt, wird berührt. Der Fotograf schildert, pars pro toto, in acht Bildern das Verhältnis zweier älterer Menschen, einer Frau und eines Mannes. Beide würden wohl vom oberflächlichen Normdenken her als hässlich bezeichnet. Die Umgebung, eine Beiz, ist alles andere als romantisch, geschweige denn romantisierend. Ihr Gesicht ist kaum zu erkennen. Er legt ungeniert vor der Kamera sein Gebiss ein. Unappetitlich? Aber man muss hinsehen: Es ist ein Achtel der Gesamtaussage und inhaltlich relevant. Über die Schulter des Mannes hinweg hat die Kamera das Papier, auf dem das Diktat geschrieben wird, festgehalten. Die Zeilen in unbeholfener, aber sehr bewusst gestalteter Schrift sind gut lesbar. Bild im Bild? Man riecht nicht den Mundgeruch und nicht die Alkoholfahne. Aber für die Betrachtenden sind sie präsent. Hier ist keine Chronik über das Grosse Welttheater entstanden. Aber ein Porträt der Seele vom Menschsein. Also, wesentlich umfassender. Hier ist nicht Elend abgelichtet worden, im Gegenteil! Wenn der Fotograf in seiner Kurzbeschreibung etwa gesagt hätte, die Frau sei Enkelin eines international berühmten und sowohl ethisch und humanistisch sowie politisch aktiven Theologieprofessors, Kettenraucherin, ehemalige Gymnasiallehrerin, blitzgescheit, Pegeltrinkerin, Schriftstellerin; jemand, die sich von Akademia losgesagt hat, nicht aber vom Intellektualismus und schon gar nicht vom Humanismus. Und: sie praktiziere im Sinne des Wortes beides; sie schaue zu dem Mann, ebenfalls Kettenraucher, aber ein nur mässiger Biertrinker mit so tiefem IQ, dass man ihn ruhig als behindert bezeichnen könne; sie verwalte sein Geld und unterrichte ihn in Deutsch, versuche, ihm so das Bedürfnis nach Begreifen und Einsichten in Sinnzusammenhänge zu wecken (also doch die Blaue Blume?). Vielleicht würde man in Kenntnis dieser Hintergrundinformationen die Fotos genauer anschauen? Hier wird eine Geschichte von dem erzählt, was Menschsein jenseits von ästhetischem Normdenken bedeutet. Es geht um zwei Menschen im Abseits und um ihren Reichtum. Reichtum, der in unser aller Reichweite wäre. Sie ist bewusst daneben, er vermutlich nicht. Was sie tun oder lassen, kümmert niemanden: So lange man nicht dafür zur Verantwortung gezogen wird. Alexander Egger schreibt all das nicht. Nur Diskretion? Oder schätzt er die BetrachterInnen so ein, dass sie im Zwiegespräch mit den Bildern selber zur Essenz finden werden? Vielleicht denkt man beim Anschauen der Bilder weniger an Friedrich von Hardenberg als an Bert Brecht? Alice Henkes schreibt in «Der Bund» dazu: «Bewegend ist die Serie ‹Deutschstunde› von Alexander Egger, die Momentaufnahmen aus der Welt am unteren Ende der sozialen Leiter zeigt.»
ensuite, August 2009