Von Dr. Regula Staempfli - 1930 war ein besonderes Jahr. Die Avantgarde der vergangenen Jahre war definitiv vorbei. Die Moderne befand sich auf den seltsamen Pfaden der Erschöpfung. Die Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt wühlte in nihilistischen, gewalttätigen, herrensüchtigen, finanztüchtigen und damit feindlichen Visionen, die sich gegen alles Leben kehren sollten.
«Tag für Tag bewältigen wir unser Dasein. Die reale Welt okkupiert uns. Wir essen, kochen, kaufen ein, wir arbeiten, verhandeln dies, entscheiden jenes. (…) Doch da ist noch eine andere Welt: die Welt der Vorstellungen und Sinneseindrücke, die Welt der Anschauungen und der Begriffe, das Reich, das sich hinter Fenstern und Türen auftut. (…) Nach wie vor beunruhigt die Frage, wie es geschehen konnte, dass der Sieg der Nationalsozialisten 1933 so beschämend einfach war. Und sie beunruhigt umso stärker, je mehr heutzutage einzelne Augenblicke Parallelen zur Zeit vor dem Ende der Weimarer Republik wachzurufen scheinen. Und je mehr heute selbsternannte Alarmisten und Autokraten Parallelen herbeireden.»
Die Autorin und Journalistin Marie Luise Knott – vom männerlastigen deutschen Feuilleton etwas übersehene deutsche Intellektuelle, obwohl sie 2011 für den Leipziger Buchpreis nominiert war – hat einen erschütternden Jahresbericht zu 1930 geschrieben. Seit der erfrischend klugen «Gala für Intellektuelle» (O‑Ton Elke Heidenreich) von Florian Illies’ «1913» sind vermehrt Jahresdaten auf den Sachbuch-Bestsellerlisten zu finden. Die Mischung von Historie und Literatur ist fabelhaft. Sie erinnert daran, dass es vor noch nicht allzu langer Zeit tatsächlich eine deutschsprachige Geschichtswissenschaft an den Universitäten gab, die einen literarischen Anspruch pflegte.
Hinter Knotts literarischem Konzept der «Dazwischenzeiten» steht die zutreffende Überlegung, dass die Geschichte sich am besten in einer im Raum festgezurrten Zeit erzählen lässt. Denn das einzig Wirkliche besteht letztlich in den Ereignissen danach, was ein Vorher erklärt. «Einst mir so freundlich und mir so feindlich heute», sang Ernst Busch dann als Bilanz im Jahre 1932, von Bertold Brecht gedichtet. Als ich diese Zeilen las, sprachen sie mir direkt aus den sozialen Netzwerken, deren anfängliche Freundlichkeit (jedenfalls auf Facebook) sich durch deren Inbesitznahme massenmedialer Propaganda heutzutage in eine unglaubliche Garstigkeit verwandelt hat.
Was war im Jahre 1930? Bei den vorgezogenen (!) Reichstagswahlen im September stieg die NSDAP zur zweitstärksten Kraft auf. Allein in Berlin steigerten die Nazis ihre Parteibasis von 35 000 Stimmen auf 350 000 Stimmen – manchmal lohnt es sich, den genauen Verlauf der Geschichte anzuschauen.
1930 wurde aber auch der Planet Pluto entdeckt. Derselbe Pluto, der 2006 in einer Abstimmung von 2500 Wissenschaftlern zurückgestuft wurde. Er gilt jetzt als Zwergplanet, zusammen mit Asteoriden und Kometen. Eine ziemlich üble Geschichte, da die Wissenschaftler vor lauter Ego-Ansprüchen immer mehr die Erst-Entdeckung von unzähligen Planeten für sich behaupten wollten. Deshalb musste man 2006 schleunigst die Zahl der Planeten reduzieren, und man tat dies mit einer Neudefinition, was denn überhaupt Planeten seien.
Phänomenologisch gesehen, betrat also der neue Planet mit dem Namen eines Totengottes die Weltbühne just in dem Moment, als der Mord in Deutschland zur Politik erklärt wurde, und er trat als Planet in dem Moment ab, als die Wissenschaftler das Ende des Todes in greifbarer Nähe verkündeten.
Marie Luise Knott besichtigt die Feuerlandschaften, die das Jahr 1930, dessen Folgejahre alles Bisherige, alles Gute, alles Menschliche in Schutt und Asche legen werden. Sie tut dies mit einem unvergleichlich herausragenden Sprachduktus, einem elegischen Ton und äusserst melancholischen Blick. Mit ihrer subtilen Reflexion über – in der Reihenfolge – Pis-
cator, Wolfskehl, Brecht und Klee ist sie eine Nachdenkerin voller Würde in der ehrenvollen Reihe mit Hannah Arendt und Walter Benjamin.
«Dazwischenzeiten» ist ein unglaublich gutes Buch. Erschüttert haben mich alle Essays, erschüttert hat mich vor allem die Erkenntnis, was denn alles so passiert, wenn der «Raum zwischen den Menschen» aufgehoben wird, wenn er zerfällt, wenn er mutwillig festgemacht wird an Haut, an Ideologie, an Geschlecht, an Partei, an Herkunft.
Das Buch hat mich daran erinnert, wie sehr wir uns heute diskursiv auch auf dem Pfade einer faschistoierenden Biologisierung aller Lebenszusammenhänge befinden – und zwar auch in Gruppen, die sich den Totalisierungstendenzen in der Gesellschaft durchaus bewusst sind.
Wer sich mit Marie Luise Knotts Spuren auf die Zeitgenossen von 1930 einlässt, wird erkennen, was heute im Hier und Jetzt auch Sache ist. Und nicht nur bei den üblichen Verdächtigen, sondern auch bei den ehemaligen Freunden, deren Eifer des «Sich in der einzig richtigen Position zu befinden» eine Komplizenschaft mit dem Bösen vorwerfen lassen müssen.
«Als die Nazis die Konzentrationslager errichteten, hatte der europäische Geist längst jene Geisteswelt erschaffen, die Auschwitz möglich machte», schreibt die Autorin im Vorwort zu «Dazwischenzeiten». Mit Blick auf die Gegenwart könnte man hier anschliessen: «Als die Einkerkerung allen Lebens in die Zustände Null und Eins fortschritt, schien plötzlich alles möglich, auch das Unmögliche.» Das Buch «Dazwischenzeiten» erinnert daran, was ist, wenn alles so ist, wie es nie sein sollte.
Marie Luise Knott, Dazwischenzeiten, 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne. Matthes & Seitz Berlin 2018
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