Von Dr. Regula Stämpfli — Wie Hedwig Richter die Geschichtsschreibung reformiert und was die Reaktion einiger Fachkollegen über den misogynen Geist an deutschen Universitäten und im Feuilleton aussagt.
Hedwig Richter, Professorin ihres Fachs, hat die deutsche Demokratiegeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart neu geschrieben. Die preisgekrönte Historikerin analysiert Demokratie von der Menschenwürde her. Sie erzählt stringent, wie das universelle Versprechen auf Gleichheit sich praktisch gegen Frauen und SklavInnen richtete. Hedwig Richter ergänzt bisherige reduktionistische Demokratietheorien mit der Körper-Dimension. Sie tut dies mit wahrhaftiger Geschichtsschreibung, indem sie ihren Blick nicht auf die Theorie, sondern auf die historische Praxis der Untertanen richtet. Hunger, Schläge, Folter, Erniedrigungen stehen diametral zur in demokratischen Verfassungen festgelegten Menschenwürde und dem Gleichheitsanspruch der Aufklärung. Diesen Aspekt klammern die Revolutionsgeschichten zur Demokratie gerne aus, und damit räumt Hedwig Richter auf. Ihre Demokratie ist wirklichkeitsnah und nicht so selbstherrlich inszeniert wie die Demokratiegeschichte der Männerbünde, die sich gegenseitig über Jahrhunderte zitieren, an der Macht halten und ihre Unterdrückten mit wirkungsmächtigen Fiktionen aus der Geschichte schreiben. Politische Ideen, Parlamente, Männerbünde, Männervereine stehen bei der Demokratiegeschichte von Hedwig Richter einmal nicht im Fokus, was das Buch so revolutionär gut macht.
Hedwig Richters Werk kommt einer Neuerfindung historischer Methoden gleich. Kein Wunder, reagieren die Fachkollegen darauf verschnupft. Denn sie widerlegt mit unzähligen Quellen und globalen Ansätzen gängige Deutschlandklischees. Wäre Hedwig Richter ein Fachkollege, ein Mann unter Männern, ihre Lobpreisung wäre unendlich. Sie würde in alle Talkshows eingeladen, zu Vorträgen in aller Welt geflogen, Markus Lanz würde sie zur Geschichtsexpertin erklären, so wie er Richard David Precht zum Philosophenpapst gekürt hat.
Doch – und hier liegt das Skandalon: Hedwig Richter ist eine Frau. Zwar immerhin Professorin ihres Fachs, doch als Frau hat sie unter den Historikern in der Öffentlichkeit zu schweigen. Die Rezensionen von ihren Fachkollegen und den verwirrten Mittäterinnen im Feuilleton wären in einem Sammelband zur Misogynie im 21. Jahrhundert gut aufgehoben. Hier einige Beispiele der unzähligen persönlichen Klischeeattacken der Kollegen und der weiblichen Boulevardschreiber.
Marc Reichwein von der «Welt am Sonntag» leitet Hedwig Richter mit folgendem Satz ein: «Es ist ein halbes Jahr her, dass Hedwig Richter einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde.» Falsch, Fake News und unzureichend recherchiert. Die breite Öffentlichkeit schätzt die Intellektuelle Hedwig Richter seit Jahren: Nur die Männer im fetten Feuilleton (oder waren es die Fetten im dünnen deutschen Feuilleton?) kannten sie nicht. Sie wollen sie auch nicht wirklich kennenlernen. «Sie ist vielen grundsympathisch, vermittelt ihre Themen mit Enthusiasmus und Drive», wirft Marc Reichwein der Bestsellerautorin vor. Sie «taucht» nach Reichwein in der Öffentlichkeit auf: Wer auftaucht, gehört nicht von Anfang an dazu. Besonders bunt punkto Frauenhass treibt es Christian Jansen, Professor in Trier. Er disqualifiziert Hedwig Richters Werk fälschlicherweise – auch hier keine Recherche – als «populären Überblick». Fake News again, die auch dadurch nicht richtiger werden, dass Jansen behauptet, das Sachbuch sei mehr für Talkshows und Bestseller verfasst worden denn als ernst zu nehmendes historisches Werk.
Wie bitte? Können wir nochmals von vorn beginnen? Hedwig Richter hat die deutsche Demokratiegeschichte neu geschrieben. Dies erkennen die wichtigsten Fachjurys und das Fachpublikum. Doch offensichtlich reicht es dem fehlgeleiteten deutschen Feuilleton, wenn zwei Professoren wie im 19. Jahrhundert Verleumdungen über ihre Kollegin sowie Fake News zu den Inhalten der faszinierenden Demokratiegeschichte von Hedwig Richter verbreiten. Wo bleiben Recherche, Legitimation, Deliberation und Urteilskraft innerhalb der Akademie?
Christian Jansen hat für DAS Portal der Sozial- und Geisteswissenschaften, H‑Soz-Kult, eine Fantasierezension gegen Hedwig Richter verfasst. Diese Suada aus einem vorsintflutlichen Männerkabinett verwendet sexistisch motivierte Taktiken. Statt zu erwähnen, dass Hedwig Richter den renommierten Humboldt-Preis erhalten hat, macht er sich lustig über die Preiskriterien. Jansen fährt weiter: «Statt den Zusammenhang zwischen Körper, Gender und Demokratisierung in seinen Ambivalenzen historisch herzuleiten und zu veranschaulichen, plustert Richter sich auf und provoziert Widerspruch.» Wie bitte? «Sie plustert sich auf?» Wer plustert da völlige Fake News auf auf dem wichtigsten Rezensionsportal zur Geschichtsforschung? Jansens Besprechung zu Hedwig Richters Buch strotzt vor Fehlangaben, Leerstellen und Hinterhältigkeit gegen die Autorin. Er und Andreas Wirsching verfassten ganz offensichtlich Fantasierezensionen zu einem Buch, das Hedwig Richter nie geschrieben hat.
Die kluge Hedwig Richter reagierte kühl und sachlich – für meinen Geschmack viel zu zahm – auf die unglaublichen Attacken der beleidigten Männer. Ihr Text ist kristallklar, mit vielen Anmerkungen und Fussnoten versehen und stellt an einer Stelle fest:
Dass mir Christian Jansen vorwirft, ich würde die einschlägige Forschung zur Frauengeschichte nicht beachten (und dabei fälschlicher Weise eine Autorin nennt, die ich sehr wohl berücksichtige), ist erstaunlich. Erstaunlich auch Wirschings Kritik, ich würde den «so wichtigen und aktuellen Forschungsfeldern Demokratie und Geschlecht» nicht gerecht. Das erscheint mir angesichts seiner nicht ersichtlichen Leistungen auf diesem Feld als harsches Urteil. Gleichwohl stimme ich den Rezensenten zu: Es gibt hier ein grosses Potenzial, das ich nicht annähernd ausgeschöpft habe.
Sosehr Jansen und Wirsching Geschlechter- und Frauengeschichte in abstracto feiern, so lächerlich erscheint sie ihnen, wenn sie auftaucht. Die Arbeit der weiblichen Abgeordneten in der Weimarer Republik verkürzt Andreas Wirsching höhnisch: «‹Parlamentarierinnen aus unterschiedlichen Fraktionen› sorgten dafür, dass Kinder gut erzogen wurden (215)». Tatsächlich steht bei mir, dass die Parlamentarierinnen dafür sorgten, «dass Kinder ein Recht auf eine gute Erziehung erhielten […]. Minderjährige wurden als selbständige Subjekte mit eigenen Rechten anerkannt» (S. 215). Und es folgen in meinem Buch weitere Ausführungen zu den sozialstaatlichen Aufbrüchen in Weimar, zur Einführung der verpflichtenden egalitären vierjährigen Grundschule etwa oder zum Anstieg der Ausgaben für die Sozialversicherung im Vergleich zur Vorkriegszeit um 500 Prozent. All das passt freilich nicht in Wirschings Geschichtsbild – der neueren Forschung zum Trotz. Auch beim Thema Pille zeigt sich eine gewisse Befangenheit der Rezensenten gegenüber der Geschlechtergeschichte. Andreas Wirsching erklärt, meine Ausführungen dazu seien «ohne weitere Reflexion affirmativ-konsumgeschichtlich». Anstatt zu lesen, wie in meiner Darstellung die Personenrechte sich am Körper manifestieren und wie Gleichheit über den Körper soziale Relevanz gewinnt, wirft er mir vor, «Person» und «Körper» zu vermengen. An dieser Stelle aber verdeutliche ich, wie Körper und Körperpolitik einmal mehr die Demokratisierung prägen: Das spezifische Emanzipationspotenzial für Frauen, das durch die Möglichkeit einer sicheren Geburtenkontrolle entsteht, trug auf lange Sicht zu einer «Neujustierung der Geschlechterordnung» bei (S. 296).
Was für eine Grandeur angesichts deutscher Geschichtsprofessoren, die sich wie im vorigen Jahrhundert benehmen: verbohrt, arrogant, menschenverachtend, diskriminierend, herrschaftlich-dumm. Leider sind sie so mächtig, dass sie weibliche Gespielinnen in den Medien mobilisieren. Elke Schmitter im «Spiegel» ist so eine, die es nicht lassen kann, noch einen sexistischen Drive zusätzlich reinzubringen: Mit «Geschichte als Soap» wirft Schmitter Richter vor, nur «willkommene» Botschaften zu propagieren. Sie behauptet Dinge, die nicht in Hedwig Richters Buch stehen. Sie unterstellt Motive, die bei Hedwig Richter nicht auftauchen. Sie macht sich lustig über historische Methoden, die neu und eben weit über das Blut- und-Boden-Schema deutscher Geschichtsschreibung hinausreichen. Ihre Rezension ist so ungebildet wie nicht recherchiert und wird dennoch im «Spiegel» gedruckt: Relotius lässt grüssen.
An Hedwig Richter wird das deutsche Lexikon der Frauenabwertung dekliniert, und es ist verdammungswürdig, dass ihr die Kolleginnen nicht zur Seite stehen, sondern sich im Gefechte ducken. Statt in allen Geschichtsdepartementen die Historikerin zu feiern, die die Grösse hat, Demokratie im Zusammenhang mit Frauen, Körper, Emotionen zu denken – und dies äusserst akkurat tut –, kramen die KritikerInnen in der Kiste des Frauenhasses. So langsam wird klar, wie es in den 1930er-Jahren in der Akademie gegen jüdische KollegInnen zugegangen sein muss. Denn die Mischung von Fake News zu den erforschten Inhalten und ungebührlicher Aggression gegen die Person erledigte das Geschäft der Nazis akademisch sauber und in vorauseilendem Gehorsam. Interessant, dass dies keinem deutschen Beobachter, der sich zugunsten von Hedwig Richter geäussert hat, aufgefallen ist. Denn bei den Rezensionen geht es nie um das reale, herausragende Werk von Hedwig Richter, sondern um ihre Auslöschung. Echt übel.
Dabei eröffnet Hedwig Richters Standardwerk zur Demokratie unzählige neue Wege, Demokratie zu etablieren, zu leben und zu feiern. Hedwig Richter schreibt die Geschichte der Demokratie als Resonanz: als Beziehungssystem, das, je nach Anreizen, mal so und mal so auch wirken kann. Diese Breite erlaubt es Hedwig Richter, die Geschichte der Demokratie nicht als Männergeschichte zu erzählen, sondern als historische Praxis zu erkennen. Richter fasst nicht nur die langweilige und längst bekannte politische und politologische Dimension ins Auge, sondern thematisiert das soziale, gesellschaftliche und körperliche Beziehungsgeflecht.
Demokratie ist, wenn richtig gelebt, immer eine Inklusionsreform, der eine lange Geschichte von Exklusionen vorhergeht. Wer Sklaven, Sklavinnen, Kinder, Frauen und «Natur» in die Leerstellen verweist, schreibt keine wirkliche Demokratiegeschichte, sondern repetiert Macht. Demokratie wird als Rezeption einer reinen Ideengeschichte für Massenmorde verantwortlich gemacht, und dies nur, weil Demokratie eben nicht wirklich im Kontext und im Beziehungsgeflecht erzählt wird. Hedwig Richters Buch «Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart» zeigt, dass Demokratie nur durch Reformen erreicht und stabilisiert wird. Richter zeigt auch, und das missfällt den linken Revoluzzern besonders, dass Demokratie zu Beginn meist ein Eliteprojekt ist. Wahre Demokratie ist kein Gewalt‑, sondern ein Kollektivprojekt. Hedwig Richter hat ja so recht, wenn sie darauf beharrt, dass Demokratie immer auch ambivalent sei und die Geschichte der Einschränkung mit in sich trage. Hedwig Richter argumentiert darüber hinaus wie Hannah Arendt: In der Praxis zeigt sich Politik, nicht in der Theorie. Diese Praxis betrifft den Körper und dessen Geschichten. Demokratie ist auch die Geschichte der Vorstellungswelten und damit die Geschichte und die Verantwortung der Medien. Demokratie ist auch die Geschichte der Gefühle, der Popularisierung der Idee von Gleichheit, Solidarität und Freiheit.
Hedwig Richter bricht auf zu neuen Erzählungsformen und wird dafür als Frau, die öffentlich nicht sprechen soll, und als Historikerin, die hervorragend und anders erzählen kann, von den altertümlichen, ekligen Kollegen und Mittäterinnen des Patriarchats mit aggressiven Attacken bestraft. «Die westliche Kultur hat Tausende Jahre Erfahrung darin, Frauen zum Schweigen zu bringen», meint Mary Beard. Die Zurechtweisung von Hedwig Richter soll alle weiblichen Intellektuellen zum Schweigen bringen. Denkerinnen, Innovatorinnen, Unternehmerinnen, Podcasterinnen werden nicht ernst genommen und werden bei steigendem Einfluss vernichtet. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich fordere nie pauschal positive Rezensionen zu Sachbüchern, die von Frauen verfasst sind. Ganz und gar nicht. Doch die deutsche Tradition, Autorinnen mittels Person sowie Infragestellung der weiblichen Kompetenz zu vernichten, muss endlich benannt werden. Es gibt ein regelrechtes #BookToo: diese vom Männerfeuilleton zelebrierte Misogynie.
Deshalb: Lesen Sie Hedwig Richters Buch: «Demokratie. Eine deutsche Affäre». Sie lernen dabei nicht nur die Demokratie, sondern auch sich selbst und damit unsere noch existierenden Demokratien schätzen und Sie realisieren sofort: Wahre Demokratie ist nicht nur Rechtssache, sondern hat grosse körperliche, emotionale, digitale, widerhallende, feministische Aspekte, die es künftig nie mehr zu missachten gilt.
Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, C.H. Beck, 2020.