Von Peter J. Betts — Der Autor wählte einen scheinbar harmlosen Titel für das 1945 erschienene Buch: «Animal Farm». George Orwell hatte aber weder ein Kinderbuch, noch eine tierschützerische Botschaft, noch eine harmlose Humoreske geschrieben: der kritische Sozialist, entsetzt und enttäuscht über die erlebten sicherheitspolizeilichen Massnahmen der Sowjets während des Spanischen Bürgerkrieges (gegenüber der eigenen Seite…) und die Entwicklungen in der Sowjetunion selber unter Stalin, schilderte die Geschichte der kommunistischen Revolution bis und mit Stalin-Ära als bitterböse Fabel, bei deren Lektüre man kaum das Lachen verkneifen kann, wenn es einem nicht gerade in der Kehle stecken bleibt: keine vergnügliche Parodie. Und wenn man das Erscheinungsjahr vor Augen behält, erscheinen beim Lesen die Parallelen zum Dritten Reich nicht ganz zufällig. Nach wie vor blieb Orwell überzeugter Sozialist, leicht hätte er es wohl nur wenig später während der McCarthy Zeit in den Staaten nicht gehabt. Der Autor wählte im Jahr 1948 wiederum einen scheinbar harmlosen, verspielten Titel: «Nineteen Eighty-Four». Mit dem Inhalt von «1984» beabsichtigte George Orwell das Darstellen des Gegenteils einer Utopie, eine Anti-Utopie gewissermassen, was seither immer mehr und mehr erst zur Utopie und zunehmend zur grenzenlos (?) übertreffbaren Realität wurde. – Beabsichtigt war also eine Dystopie, ein Gegengewicht zu den Eutopien, die Werbung, Wirtschaft und Politik gezielt suggerieren. Mit Absichten ist das so eine Sache. Als beispielsweise Thomas Morus «Utopia» schrieb, mag ihm vorgeschwebt sein, er schreibe einen Reiseführer in eine bessere Welt der Zukunft: Demokratie, Gleichheit usw. Und das Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges, einer Zeit, in der man wiederum eine «bessere Welt» dringend herbeisehnte. Die Absicht war also ein Reiseführer, oder eher eine Art Reiseprospekt. (Mürren ist anders als im Prospekt dargestellt, und Avalon ist nach wie vor nicht erreichbar.) Absichten … Die LeserInnen von «1984» dachten wohl: «So schlimm kann es nicht kommen.» Die LeserInnen von «1984» im Jahre 1984 – zumindest die Uniformen, wir, die wir nicht wirklich hinter die Kulisse sehen, also die grosse Mehrheit – dachten erleichtert: «Ganz so schlimm ist es nicht ’rausgekommen und wird es wohl auch nie.» Der Roman war eine Art Vermächtnis George Orwells, der kurz nach der Publikation verschied. Orwell mag ein selbstkritischer Mensch gewesen sein; ob er sich wohl je als Naivling eingeschätzt hat? George Orwell und Aldous Huxley mochten gehofft haben, ihr Werk sei ein Beitrag der Kultur der Kunst, die Kultur der Allianz von Werbung, Wirtschaft und Politik in eine menschenfreundliche Richtung zu bewegen. «Brave New World», in den frühen Dreissigerjahren von Aldous Huxley geschrieben, ebenfalls eine drastische Anti-Utopie, dürfte in den letzten Jahrzehnten aber zum wirkungsvollen Leitfaden für die Werbeindustrie geworden sein, die damit global erfolgreich Wirtschaft, Politik, Konsum, Reichtum und Armut: das ganze Spektrum unseres Sucht- und Leidensverhaltens unter dem Deckmantel der Hilfestellung konsequent regiert. Kontrolliert und rund um die Uhr beherrscht. Was im Roman dargestellt wurde, ist heute global Realität der Alltagskultur: durch Konsum, Sex und die Droge Soma (nicht nur, was heute bei den Drogenanlaufstellen abgegeben wird) wird für die Gesellschaft das Bedürfnis nach kritischem Denken und Hinterfragen ihrer Weltordnung irrelevant. Global ausgenommen sind natürlich jene konsequent übersehenen Schichten in permanent akuter Notlage, die eh kein Gewinnpotential vorzuweisen haben und deshalb zum Wohle aller übrigen systematisch und beliebig ausgebeutet werden können. Für den profitierenden Rest wird dieser Sachverhalt erfolgreich ausgeblendet. Aldous Huxley hatte den scheinbar harmlosen Titel spielerisch und nicht wenig ironisch als Zitat aus Shakespeares «Der Sturm» gewählt. Selbstlos haben uns die US-Soldaten vor dem braunen Terror gerettet. Die US-Soldaten waren in unser aller Augen die Retter vor dem Bösen. Spätestens mit den Agent-Orange-Einsätzen in Vietnam (die Folgen sind heute noch mehr als nur spürbar) gerieten gewisse Gewissheiten ins Wanken. Fragen tauchten auf, etwa: wie hat man die Böden unserer Nutzwälder so leicht begeh- und befahrbar gestaltet? Mit was für Folgen? Traue keinem über Dreissig? (Die Achtundsechziger waren schon ein bisschen vietnamkritsch … Viele vertrauten darauf, dass die russische Revolution in nicht allzu ferner Zukunft zur Gleichheit aller und zu Gerechtigkeit für alle führen würde. Nicht in stalinistischer Manier.) Unerwartet vernimmt man plötzlich in den Nachrichten heute etwa, dass seit sehr langer Zeit, vor Obamas Amtsantritt, der Geheimdienst in den USA das gesamte Internet, auch die Telefonate aller registriert, die Ergebnisse in einem globalen Gedächtnis nach Bedarf auffindbar gespeichert sind. Eine Art Damoklesschwert des Jüngsten Gerichtes, auf Abruf durch die Berufenen jederzeit einsetzbar. Hölle und Fegefeuer werden höchst überflüssig. Viele denken bei der Nachricht über die Geheimdienste der USA an einen totalitären Überwachungsstaat – ausgerechnet im Lande der unbegrenzten Freiheit – und fühlen sich erinnert an Orwells mystifizierte Figur in «1984», deren Ausstrahlung fühlbar mit dem auch im deutschen Sprachraum verständlichen Ausspruch «Big Brother is watching you» in Verbindung gebracht wird. Drohnen, Überwachungssatelliten, biometrische Reisepässe, Spuren im Handy, die über die Aufenthaltsorte und Ortsverlegungen der Besitzerin oder des Besitzers verwertbare Auskunft geben, andere Auskünfte durch Käufe im Internet und so weiter und so fort. Ist, wer sich über die Summe all dessen Gedanken macht, paranoid? Obama, er ist längst über Dreissig, beruhigt weltweit die verunsicherten Menschen: fast alle US-ParlamentarierInnen seien über das Überwachungsprogramm informiert; niemandem gehe es darum, die BürgerInnen zu kontrollieren oder zu überwachen; alles völlig legal, wie es einem Rechtsstaat geziemt: Spezialgerichte überwachten ständig die Überwachenden; höchstes Ziel der ganzen Übung sei es, alle (guten? braven? makellosen?) BürgerInnen, die sich nichts hätten zuschulden kommen lassen, vor dem Terrorismus zu schützen. Logisch unanfechtbare Begründungen oder nur medial wirksame? Saubere Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative? Irgendwie wird man wieder an «Brave New World» erinnert: dort spricht nicht der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern Mustapha Mond, der Weltaufsichtsrat, d.h. der Weltkontrolleur. Auch der Weltkontrolleur ist sich als Alpha-Plus-Plus der negativen Seiten der modernen Welt ebenfalls (Obama ist sicher nicht naiv) voll bewusst, verhält sich aber systemtreu, um den Fortbestand des Systems und seine eigene Führungsrolle nicht zu gefährden … Erinnert Sie der Begriff «Alpha-Plus-Plus» an z. B. verwaltungskonforme Einstufungskriterien bei MitarbeiterInnenbeurteilungen, wie Sie sie vielleicht selbst erlebt haben? Gewinnen Sie eine unliebsame und beängstigende Erkenntnis? Nun, der Biss in die Frucht der Erkenntnis hat zur Vertreibung aus dem Paradies geführt. Ich will hier nicht Miltons «Paradise Lost» bemühen. Weder Orwell noch Aldous Huxley haben sich über eine wahrscheinliche Entwicklung unserer Welt lustig gemacht. Ihre Werke waren Frucht der Furcht vor der Entwicklung unserer Gesellschaft oder unserer Welt, wie sie sie auf uns zukommen zu sehen glaubten; Kulturschaffende, die versuchen, uns mit ihren Werkzeugen anzuregen, uns selber auf die Suche nach tauglichen Werkzeugen zu machen, mit denen wir das Schlimmste abwenden könnten? Und dann verkommt dieser Versuch bestenfalls zu Unterhaltung der gehobenen Art? Harmlose Titel?
Foto: zVg.
ensuite, August 2013