Von Anne-Sophie Scholl - Eine der unbestechlichsten und mutigsten Stimmen in der Schweiz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Berner C. A. Loosli. Lange zu Unrecht verkannt, lässt ihn die im Rotpunktverlag entstehende 7‑bändige Werkausgabe in der ganzen Breite seines publizistischen Engagements zu Wort kommen. Zwei Bände liegen vor. An den Solothurner Literaturtagen wird die Vernissage des neusten Bandes gefeiert: Das Buch «Gotthelfhandel» zeigt C. A. Loosli als Schriftsteller, der sich kompromisslos für seinen Beruf stark macht. Ein Gespräch mit Fredi Lerch, dem Mitherausgeber der entstehenden C. A. Loosli-Werkausgabe.
Der letzte Band der Werkausgabe wird 2009 zum fünfzigsten Todestag von C. A. Loosli erscheinen. Wieso soll man C. A. Loosli heute noch lesen?
Das Werk von C. A. Loosli gibt einen unglaublich breiten und kompetenten Einblick, wie die Schweiz zwischen 1900 und 1950 funktioniert hat. Es ist ein Einblick, der viel umfassender ist als die meisten anderen schriftstellerischen Einblicke, weil Looslis Texte viel mehr von den effektiven politischen, juristischen und gesellschaftlichen Strukturen in dem Land vermitteln. Dieses Land hatte Aspekte, wie etwa das Verdingkinderwesen oder die Administrativjustiz, die äusserst schlimm gewesen sind. Seine Kritik führt Loosli scharf und teilweise kann man sie heute ebenso scharf immer noch führen — etwa, wenn Loosli über den «lächerlich gekrümmten internationalen Trinkgeldbuckel» seiner Miteidgenossen von Leder zieht. Das Land hat aber auch Qualitäten, die auch Loosli verteidigt, etwa die demokratische Struktur und die kulturellkreative Kleinräumigkeit. Um zu wissen, warum die Schweiz heute funktioniert, wie sie funktioniert, muss man vielleicht wirklich einmal Loosli lesen.
Zwei erste Bände der entstehenden Werkausgabe sind letzten Herbst erschienen, jetzt wird ein weiterer Band greifbar. Wie ist dieser dritte Band in die Werkausgabe einzuordnen?
Wir machen sieben Bände und jeder Band soll einen Aspekt von C. A. Loosli zeigen, weil wir der Meinung sind, Loosli wird heute, wenn überhaupt, viel zu eng wahrgenommen. Man kennt ihn nur noch als Dialektautor und allenfalls als Verfasser des Kriminalromans «Die Schattmattbauern». Loosli hat sehr viele Facetten. Unter dem Titel «Gotthelfhandel» zeigen wir den Schriftsteller Loosli. Loosli hat versucht, als professioneller Schriftsteller zu leben, also sich mit dem Einkommen seiner Arbeit zu finanzieren und eine Familie mit fünf Kindern durchzubringen.
Das Buch zeigt diesbezüglich verschiedene Aspekte. Titelgebend ist einer der Schwerpunkte des Bandes, der sogenannte Gotthelfhandel. Was ist darunter zu verstehen?
Bei der Titelgebung der einzelnen Bände war uns ein Anliegen, möglichst mit Begriffen zu arbeiten, die Loosli selbst gebraucht hat. Der Gotthelfhandel ist so ein Loosli-Wort. Dabei geht es darum, dass Loosli 1913 in einem satirischen Text öffentlich behauptet hat, Jeremias Gotthelf, der ja unter bürgerlichem Namen Albert Bitzius hiess und Pfarrer in Lützelflüh war, habe seine Bücher nicht selber verfasst, sondern sei der Redaktor von Texten, die ein Bauer in Lützelflüh, Johann Ulrich Geissbühler, geschrieben habe. Loosli hat mit dieser Behauptung einen riesigen Medienwirbel ausgelöst, der in unserem Buch ausführlich dokumentiert wird.
Welches Ziel verfolgte Loosli mit diesem Literaturstreit?
Loosli wollte provozieren. Er hat seit Jahren die Position vertreten, dass die Philologie, also die Literaturwissenschaft, auf dem Holzweg sei. Auf der ganzen Breite der Literaturbetrachtung hatte damals aus Looslis Sicht das Bestreben, die Texte von den Biografien der Verfasser her zu erklären, stark überhandgenommen. Loosli hingegen meinte, man solle die Texte selbst anschauen. Aus diesem Grund hat er versucht zu zeigen, dass man die herrschende Philologie mit einer absolut hirnrissigen Behauptung auf das Glatteis führen kann. Dieser Gotthelfhandel mit Repliken und Dupliken ist witzig zu lesen, weil es Loosli gelungen ist, öffentlich genau die Reaktion auszulösen, die er vorausgesagt hatte.
Der Gotthelfhandel hat ein Echo in der ganzen Schweiz ausgelöst, ist aber nicht überall gleich eingeordnet worden?
In der Deutschschweiz ist der Gotthelfstreit schnell eine bierernste Sache geworden: Als die Philologen gemerkt haben, dass sie lächerlich gemacht werden, gerade auch in der Art, wie sie reagieren, haben sie angefangen, Loosli publizistisch zu bekämpfen. Nach dem Gotthelfstreit wurde Loosli dann tatsächlich von den grossen Zeitungsfeuilletons in der Deutschschweiz, aber auch weitgehend von den Buchverlagen und vom Buchhandel geächtet. In der Romandie hingegen hat man Looslis Vorgehen sofort als spezielle satirisch-aufklärerische Aktion erkannt, auch weil es in der französischsprachigen Literatur eine Tradition von «Mystifikationen», also satirischen Irreführungen des Publikums, gibt. Insofern war die Rezeption im Welschland und bis nach Paris ganz anders als im deutschsprachigen Raum.
War dieser Literaturstreit mit einem so weitreichenden Nachhall eine Ausnahmeerscheinung?
Feuilletondebatten waren damals sicher noch viel üblicher als heutzutage. Das Ausmass dieses Sturms im Blätterwald ist, was die Deutschschweizer Presse betrifft, wohl schon singulär.
Loosli hat sich die Medien zunutze gemacht, um seine Anliegen in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Er hat sich aber auch mit ästhetischen Fragen auseinandergesetzt.
Loosli war von seiner Biografie her Autodidakt. Er war Verdingbub gewesen, ist in Anstalten aufgewachsen und hatte nicht die Chance gehabt, eine akademische Bildung zu absolvieren. Er hat sich — nicht nur im Bereich der Literatur — das meiste selber angeeignet, und später zum Beispiel im Bereich der Lyrik die klassischen Formen gepflegt. In unserem Kapitel «Aus Looslis Werkstatt» gibt es verschiedene Texte, die Einblick geben, wie Loosli seine Arbeit als Schriftsteller reflektiert hat.
Ein weiterer Schwerpunkt in dem Buch zeigt Loosli Engagement für die Mundart.
Mit dem Dialekt hat Loosli zwischen 1905 und 1913 im Umfeld der damals aufkommenden Heimatschutzbewegung Sprachpolitik mit anderen Mitteln betrieben. Unter dem Druck von einem imperialistischen Deutschtum und wegen der Modernisierung und der damit verbundenen erhöhten Mobilität der Bevölkerung befürchteten damals viele, dass die Dialekte sehr schnell verwässern und kaputt gehen würden. Loosli sagt an einer Stelle explizit, er sei sich bewusst, dass er Dialekt schreibe unter dem Aspekt, ein Sprachmuseum anzulegen.
Looslis sprachpolitische und ästhetische Überlegungen sind lesenswert gerade für jene, die den Dialektautor Loosli schätzen. Nur mit diesen Aufsätzen versteht man überhaupt, warum er Mundart geschrieben hat. Dass er später damit aufgehört hat, hängt in erster Linie mit der Heimatschutzbewegung zusammen, die sich sehr schnell in eine konservative Richtung entwickelt hat.
In der Folge gab es zwei weitere Berndeutschbewegungen. Greifen diese Looslis Engagement auf?
Unter dem Aspekt einer emanzipativen Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache gibt es sicher eine Verbindungslinie von Looslis Engagement über die Nonkonformisten-Bewegung nach 1960 mit Kurt Marti, Ernst Eggimann, mit Modern Mundart und den Liedermachern bis zur Gruppe Bern ist überall — aber auch Texte von Polo Hofer, Büne Huber, Kuno Lauener und natürlich jene von Endo Anaconda gehören hierher. Es ist wichtig, dass es immer wieder sprachpolitisch fortschrittlich denkende Leute gibt, die sich mit der eigenen Sprache auseinandersetzten und das einem Publikum vermitteln.
Loosli hat sich auch intensiv mit den Bedingungen für ein Leben als Schriftsteller befasst, diese Aspekte werden in einem weiteren Kapitel aufgegriffen.
Loosli ist Initiant, Mitbegründer und der erste Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereins. Heute heisst die Organisation AdS, Autoren und Autorinnen der Schweiz, aber am Anfang der Bewegung, die knapp hundert Jahre alt ist, steht C. A. Loosli mit der Initiative: Wir brauchen einen Berufsverband. Als erster Präsident hat er sich sofort im Bereich der Urheberrechte engagiert, die finanzielle Besserstellung der Arbeit der Autorinnen und Autoren war ihm ein zentrales Anliegen. Gegründet wurde der SSV im Herbst 1912, wenige Monate vor dem Gotthelfhandel, und dieser hat unter anderem auch dazu geführt, dass Loosli als Präsident des SSV sofort untragbar geworden ist. Wobei man sehen muss, dass der Gotthelfhandel zum Vorwand wurde, um diesen Präsidenten abzuschiessen: Den dezidiert gewerkschaftlichen Kurs des Präsidenten Loosli hat die bürgerliche Presse nicht goutiert, und auch die grosse Mehrheit der Autorinnen und Autoren dieser Zeit war antigewerkschaftlich eingestellt.
Rechtliche Fragen waren Loosli auch ein Anliegen, wenn es um das Werk des Schriftstellers ging. Der letzte Teil des Buches greift den Streit um den Nachlass von Carl Spitteler auf.
Dieser Streit ist für die deutschschweizerische Literaturgeschichte wichtig: Nach dem klar deklarierten Willen von Carl Spittler sollte sein Freund, der Literaturwissenschaftler Jonas Fränkel, nach seinem Tod seine Biografie schreiben und das Gesamtwerk herausgeben. Nur, Spitteler hat nie ein formal korrektes Testament verfasst. Unter dem Einfluss der herrschenden Philologie haben die Nachkommen Spittelers den Nachlass der Eidgenossenschaft geschenkt mit der Auflage, dass Fränkel keinen Zugriff habe. Fränkel hat vergeblich bis vor Bundesgericht gegen dieses Unrecht gekämpft. In der Folge hat Bundesrat Philipp Etter einige Zürcher Philologen — erbitterte Feinde von Fränkel — damit beauftragt, eine Werkausgabe zu machen.
Man muss dazu wissen: Jonas Fränkel war als in Polen geborener Jude, als Schwerhöriger und als bester Kopf seiner Zunft ein mehrfacher Aussenseiter. Fränkel war Looslis bester Freund, und Loosli war einer der wenigen, die ihm in dem jahrzehntelangen Streit die Stange gehalten haben. Als Loosli schon alt war, hat er für alle Fälle bei einem Notar eine juristisch saubere Zeugenaussage hinterlegt, ist aber als Kronzeuge bis heute nicht gehört worden. Darum dokumentieren wir die Affäre in dem Buch relativ prominent: Jonas Fränkel wurde entschieden Unrecht getan. Der Handel gegen Fränkel wird erst dann als abgeschlossen betrachtet werden können, wenn sich die Eidgenossenschaft bei den beiden hochbetagten Nachkommen, Tochter und Sohn von Jonas Fränkel, offiziell entschuldigt. Denn was da passiert ist, muss als akademisch verbrämter und staatlich gedeckter Antisemitismus angesprochen werden.
Die verschiedenen Kapitel in dem Band zeigen wichtige literaturund kulturpolitische Engagements. Dieses Engagement stimmt ja nicht überein mit dem Bild, das viele von einem Schriftsteller haben.
Ein grosser Teil der Literatur in der Deutschschweiz des 20. Jahrhunderts krankt daran, dass sich ihre Verfasser und Verfasserinnen strikt als Belletristen verstanden haben, als Leute, die schöngeistige Sprache in schöne Formen giessen. Loosli gehörte zu den wenigen, die ganz dezidiert ein anderes Selbstverständnis gepflegt haben: Viel eher als ein Schriftsteller im deutschschweizerischen Sinn war er ein Intellektueller, der politisch-publizistisch wirken wollte. Wenn man im angelsächsischen Sprachraum schaut, wird die Grenze dort viel weniger eng gezogen: Es ist dort viel selbstverständlicher, dass jemand, der schriftstellerisch arbeitet, auf verschiedenen Ebenen etwas zu sagen hat. Es ist eine heillose Verkleinerung und Verdummung von den Leuten, die in diesem Land schreiben, dass sie sich in das kleine Gatter zwingen lassen.
Der neue Band wird an den Solothurner Literaturtagen mit einer szenischen Lesung des «Gotthelfhandels» vorgestellt. Im Anschluss führst Du ein Gespräch mit Charles Linsmayer, der sich ja auch für C. A. Loosli eingesetzt und Texte von ihm publiziert hat.
Charles Linsmayer ist Literaturwissenschaftler und der wichtigste Vermittler von Literatur der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Linsmayer hat grosse Verdienste, hat unterdessen mehr als hundert Bücher herausgegeben und in seiner grossen Reihe «Frühling der Gegenwart» 1981 auch Looslis Kriminalroman «Die Schattmattbauern» publiziert. Er hat sicher das grössere Flair für die belletristische Seite der Literatur als ich. Ich gehe deshalb davon aus, dass wir, wenn wir über den gesellschaftlichen Ort des Schriftstellers miteinander diskutieren und allenfalls darüber reden, was noch Literatur ist und was nicht mehr Literatur ist, nicht in jedem Punkt gleicher Meinung sein werden. Aber es gibt bestimmt ein interessantes Gespräch. Ich freue mich darauf!
Bild: Carl Albert Loosli, Kohlezeichnung von Cuno Amiet, 1928, zVg.
ensuite, Mai 2007