Von Dr. Regula Staempfli - In meiner Jugend spielte Liebe keine Rolle. Macht, Religion, Politik und Philosophie ja, doch Liebe? Nein. Selbstverständlich hatte ich Freunde und durchaus auch körperliche Freuden, doch das, was hinter der lackierten, spiegelnden, gewölbten Oberfläche, jener Scheissromantik, die der Kommerz “Liebe” nennt, lauert, wartet, auf Erfüllung hofft und das Leben verändert, genau das, nein, das kannte ich nicht. Heutzutage wissen viele Menschen nichts mehr von Liebe – die Apps heissen schliesslich auch Tinder, Elitepartner, Sapiosex und nicht “wahre Liebe ist so friedlich wie eine Revolution.”
Als 16jährige, auf dem Sprung ins Austauschjahr in Kalifornien, spürte ich einen Hauch von jener Kraft, die Liebe innewohnen kann, hatte ich mich doch kurz vor Abreise neu verliebt. Doch die wahre Liebe, diese Unerträglichkeit in der Schwerelose des Seins, diese Wucht, die nur Wenigen vergönnt ist, sie wirklich zu erleben, sollte sich mir viel später offenbaren.
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Weshalb erzähle ich Ihnen dies? Weil “Nina und Tom” zu den ergreifensten, schönsten, zauberhaftesten, klarsten Liebesgeschichten gehört, die ich lesen und damit eigentlich miterleben durfte. Sie steht mit Kunderas “Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins” und Shakespeares “Romeo und Julia” in einer Reihe, weshalb ich die Häme, den Neid, die Kurzsichtig- und Bösartigkeit nicht verstehe, mit denen die Kolleginnen und Kollegen den Autoren Tom Kummer abstrafen. Tun sie dies, weil sie selber in einem kleinlichen Leben ohne Fiktion, Grösse, Gefühle oder gar Menschlichkeit, gefangen sind? Sind sie alle zu sehr typisch deutschen oder deutsch-schweizerischen Frauen mutiert, die freudlos, strafend, korrigierend, immer das Beste wollend die Welt von sinnlich-frohen Menschen säubern will?
Die Ablehnung von Kummers grossartigen Roman sagt viel über unsere Zeit aus, deshalb hier ein Ausschnitt aus der ZEIT-Rezension:
“Nina ist Tomboy, Borderlinerin, Schweizerin, vor allem aber eine Männerfantasie. Sie liebt schnelle Autos und knappe Kleidung. Pferde stehlen kann man nicht mit ihr, aber schon vormittags mit dem Gin-Tonic-Trinken beginnen.” So beginnt Eva Biringer ihren Verriss von Kummers grossen Wurf unter dem hinterfotzigen Titel: “Der Tod, eine Realityshow.” Biringer sagt mit ihrem mikroskopisch-bösen Blick auf Nina mehr über sich aus als über Tom Kummers Poesie, wie ein Mensch eben gesehen werden kann, wenn er/sie geliebt wird. Obwohl in keiner Weise Ninas Körperbau entsprechend, fand ich mich im Blick Kummers, wie er die Widersprüche von Frau-Sein seit den 1980er/1990ern beschreibt, durchaus wieder. Ninas Zähheit, Durchhaltewillen, Exzentrik machte den Klang der damaligen Frauen aus: Wenn gepaart mit untrüglicher Intelligenz waren wir damaligen Frauen verdammt stark und mussten keine Kalorien zählen oder für leere Wörter totalitär kämpfen wie viele junge Frauen heutzutage. Selbst Dicke waren deshalb energetische Tomboys!
Liebe verwandelt Menschen, zeichnet Spuren, die nicht der Materialität (ein für deutsch-schweizerischen Kontext ungehörtes Konzept…) entsprechen und deshalb ist der Vorwurf der ZEIT-Rezensentin: “Ihr Körper bleibt trotz jahrzehntelangem Substanzmissbrauch nicht nur makellos, sondern entspricht dem fragwürdigen Schönheitsideal eines ausgemergelten Mädchen, mit babypopoglatter, von teuren Hautcremes verwöhnter Haut. Statt nach Zigaretten schmeckt die Kettenrauchende nach ´nassen Blumen´” archetypisch protestantisch-bösartig und unendlich von einer Kleinheit des Geistes zeugend.
Klar doch schmeckten Küsse in den 1990er Jahren manchmal nach nassen Blumen oder sie “neckten, schmeichelten, trieben schamlos Schabernack” (Shakespeare) – selbst wenn eine ganze Nacht nur gesoffen, rumgehurt und Pillen geworfen wurde! Liebende sehen ihre Geliebten als Spiegel, als Sehnsuchtsort, als Unerreichtes, als Gegenüber, als Wunderwerke der Natur. Da verschwinden Kilos, Jahrgangverhältnisse und Zentimeterangaben ebenso wie die Falten im Gesicht. Sie sind Ohrfeigen gegen die protestantisch-kapitalistische Gesellschaft, die jedem einredet: Das Ideal, die Ware, die Ikone ist tausendmal schöner als Du.
Die anderen Vorwürfe gegen Tom Kummers wunderbare Liebesgeschichte stammt von Männern. “Tom Kummer beschreibt in Nina und Tom das Krebsleiden seiner Frau. Das Buch ist faszinierend pietätlos – und enthält natürlich wieder geklaute Passagen.” Da fragt sich jede Leserin, welches Buch Tobias Kniebe gelesen hat. Natürlich ist Kummer ein Wiederholungstäter des copy-paste, ein ewiger Abschreiber und Plagiarist – aber darin so genial wie keiner seiner miesgelaunten, frauenverachtenden und klugscheissenden Zeitgenossen. Selbstverständlich lieben alle Jonas Lüscher und hassen Tom Kummer. Steril fabrizierte Eiseskälte statt saftig-imitierende Naturgewalt.
Kurz: In den bisherigen Rezensionen zu Kummers Buch widerspiegeln sich alle grassierende Zombie-Logiken unserer Zeit. Sie bilden die Vermessung der Literatur eins zu eins ab, deren Rezensenten wieder und wieder nach mehr Kilo Futter anglo-amerikanischer Personenkult-Fastfood-Blabla schreit.
Deshalb: Lesen Sie keine Rezensionen zu Tom Kummer, sondern “Nina und Tom.” Es ist mein Sommerbuch für 2017 und erinnert mich an die Amour fou, die Sie hoffentlich auch kennen. An die Liebe, die Familie, Berufs- und Wohnungswechsel überlebt und für die Unendlichkeit angelegt ist.
“Der Morgen, als Nina zum letzten Mal in den Spiegel schaut.” So beginnen Leben, Liebe und die Ewigkeit.
Tom Kummer: Nina&Tom. Roman. Blumenbar im Aufbau Verlag, Berlin 2017.
PS: Anders als alle Szenies der 1980er/90er Jahre habe ich Tom Kummer nie persönlich kennengelernt. Meine Hymne zum Buch ist also ausschliesslich dem Roman und nicht irgendwelchen Hip-In-Züri-Netzwerken geschuldet.