Von Stanislav Kutac — Unterscheidungsvermögen ist die Krönung eines langen Weges vom Minderwert hin zur Verantwortung. Im Zeitfragment von Facebook und Datenschutz tanzt der ruhelose Netzwerker mit seinem Arsch auf hundert Hochzeiten und bleibt ledig seiner selbst. Wir geben alles Preis ohne uns selbst zu kennen. Wir wollen überall dabei sein ohne auf etwas zu verzichten. Wir schreien nach Liebe und wissen es besser. Nichts als Widersprüche, die uns vor sich hertreiben, wie Schäferhunde ihre Herde. Ja, die Masse, das sind wir. Wir, die wir glauben so besonders zu sein mit unseren Ansichten, Sehnsüchten und Ängsten. Moderne Software analysiert uns mit Leichtigkeit und ohne Skrupel oder Moral, besser als jeder Psychiater. Sie sagt uns nur nicht, wie durchschnittlich wir sind. Das, von dem wir glauben, dass es uns unterscheidet, macht uns gleich. Wir leben in einer narzisstischen Welt, deren Grundlage von Minderwert geprägt ist, deren Sucht die Kompensation ist, mit der wir uns identifizieren, während wir fortwährend ihren Ursprung negieren. Zweifelsohne ist das gut fürs Geschäft. Verleugnete Unzufriedenheit kommt in einem ästhetischen Gewand daher und hat Hochkonjunktur. Aufkommendes Erwachen unterdrücken wir jäh mit dauerhafter Ablenkung und gegebenenfalls mit Pharmazeutika.
Selig die, welche in diesem Dilemma den Egoisten in sich entdecken. Die persönliche Neurose wenigstens zum Eigennutz missbrauchen. Dadurch eine gewisse Rücksichtslosigkeit zum Leben erwecken, die sie zwangsläufig Altes über Bord schmeissen lässt und Lücken öffnen für Neues, noch Unbezogenes. Diese Form der Kreativität mag sich zwar noch vom Falschen ernähren, gebiert aber so manches Wunder, das den Täter eines Besseren zu belehren vermag. Eigennutz und Rücksichtslosigkeit, kreativ genutzt, nicht wie meist nur um sich vor vermeintlichen Gefahren zu schützen, bedarf schon ziemlicher Entschlossenheit eines Menschen, dessen Selbstwert nur so vor sich hindümpelt. Schon deshalb schaffen es nur wenige «Consuming Dependents» von ihrer Sucht loszukommen.
Einen noch grösseren Schritt bedeutet es, als Folge eines vielleicht einmal momentweise gesättigten egoistischen Eigenvorteilsdenkens den Individualisten in sich hervorzukehren. Den unabhängigen Freidenker, dessen Zivilcourage nicht mehr nur geprägt ist vom egoistischen Motiven. Freilich auf deren Errungenschaften basierend sich bequemend, mal etwas für das Wohl der ganzen Zivilisation zu tun. So hehre Motivationsschübe mögen die eigene Bedeutung um ein Vielfaches himmelwärts schrauben, andererseits zwingen sie den Individualisten zur Verantwortung, denn nun wird er von den vielen, die das Individuum in sich noch vermeiden, beäugt, beurteilt, benieden, manchmal sogar verherrlicht.
Was aber ist das Individuum? Streng genommen weist es auf das Unteilbare in uns hin. Also das Indiskutable. Das unanfechtbar Seiende. Also genau das, was dem Narzissten so schmerzlich zu fehlen scheint. Womit sich der Kreis schliesst. Ein Kreis, der auf Ursache und Wirkung beruht, und dennoch bei genauem Hinsehen in sich längst rund ist, frei ist sich im Kreis zu drehen, oder das ganze Spektrum vom konformistischen Narzissmus bis hin zum transzendenten Individualismus hinter sich zu lassen – fähig geworden selbst zu unterscheiden.
Foto: stanislavkutac.com
ensuite, November 2011