Von Simone Weber — Läuft man mit einigermassen wachem Blick an den sich aufdrängenden Schaufenstern einer zivilisierten Innenstadt vorbei, fällt auf, dass zurzeit nichts moderner scheint, als alte Trends auszugraben. So schaffte es doch tatsächlich auch der Norwegerpulli – ein verblasster Stern der siebziger Jahre – zurück ins Rampenlicht. Ist sowas heute wirklich wieder angesagt? Die Modepolizei war auch schon mal strenger! Nichts gegen Gemütlichkeit, das Muster wäre je nach Modell noch ganz passabel, aber an Formlosigkeit ist der klassische Norwegerpulli wirklich kaum zu übertreffen.
Die Herkunft des grob gestrickten Pullis liegt – wie unschwer zu erraten ist – in Skandinavien. Genaugenommen stammen seine Grundzüge aber nicht aus Norwegen, sondern aus Island, den Färöer- und den Shetlandinseln. Hier finden sich die Ursprünge des mehrfarbigen Strickmusters. Die mehrfädige Strickart sorgt für Dichte, was warm hält und für Skandinavien, besonders für die harte Arbeit beim Fischfang und auf dem Feld, hervorragend geeignet ist. Von Vorteil ist dabei auch sein guter Schutz gegen Regen und Kälte. Unverwüstlich ist er aber nicht. Wie einen lieben Menschen muss man auch ihn gut behandeln, dann kann er mit der richtigen Pflege ein Freund fürs Leben werden. Er mag es nicht in der Waschmaschine, und erst recht nicht im Trockner. Viel frische Luft ist alles was er braucht.
Der Vorfahre des Norwegers ist also der Islandpullover. Er wurde im frühen 20. Jahrhundert geboren, und in dem berühmten Muster gestrickt, jedoch an einem Stück und mit der typischen Rundpasse, die auf die Perlenpasse der Grönland-Eskimos zurückgeführt wird, welche einen Bestandteil von deren Tracht bildet. Für den Ursprung des traditionellen, kunstvollen Musters gibt es zwei bekannte Erklärungen. Die eine führt uns in die sagenumwobene Wikingerzeit. Die Muster der Tücher, mit denen die Wikinger ihre Schiffe behängt haben, sollen Vorbild gewesen sein, weshalb sich Vertreter dieser Theorie sicher sind, auf Norwegerpullis typische Wikingerzeichen wie Kronen, Galeeren oder Anker zu erkennen. Andere sehen den Ursprung der Muster in einem Ereignis, das 1588 vor der Küste der Shetland-Inseln stattfand: Ein spanisches Kriegsschiff versank in den Tiefen des norwegischen Meeres. Die Überlebenden lehrten die Inselbewohner zum Dank für ihre Rettung das Spinnen und Verstricken der gewonnenen Wolle. Vertreter dieser Version sind davon überzeugt, in den Mustern spanische Elemente wie den Stern von Granada, das Kreuz von Castilien oder den Anker des Kolumbus zu erkennen. Wie auch immer es gewesen sein mag, viele skandinavische Frauen haben bis heute ihre eigenen Strickmuster, die meist den Familiennamen oder deren Wappen beinhalten, und die von Generation zu Generation weitergegeben worden sind.
In die weite Welt hinaus schaffte es der Islandpullover 1922, dank dem Prince of Wales, der ihn an einem Golfturnier trug. Sein wirklicher Durchbruch in der Fashionwelt gelang ihm aber erst infolge des Öko- und Alternativtrends in den 70er Jahren. Damals waren dicke, grobe Wollpullover im Ethnolook der Renner! Heute sind die Hardcorehippies so gut wie ausgestorben, und der original Norweger nur noch was für Fans von Fäustlingen, Bommelmützenträger und Schlittschuhfahrer.
Man kann nicht leugnen, dass an eisig kalten Wintertagen so ein kuschelig weiter, richtig dicker Schafwollpulli ganz schön gemütlich ist. Und nichts gegen Wikingerschiffe, Spanische Kreuze, Rentiere, Eiskristalle, Sterne, Schneeflöckchen, Rauten, oder mit was auch immer der Norweger halt angibt. Diese Motive finden sich beim klassischen Norwegerpullover übrigens nicht nur am Kragen, sondern auch am Bund und an den Ärmelenden. Weil man den Pulli in eine hochtaillierte Hose steckte, sparte man sich aber die Mühe eines Musters im unteren Drittel und liess den Pulli dort einfarbig, was ihn bis heute auszeichnet. Seine klassischen Farben sind Beige- und Brauntöne. Es gibt ihn aber heute auch in Blau, Grün, Schwarz und Rot, und sicher auch in Rosa und Violett und Türkis.
Von den Farben zur Form. Dieser Pullover schafft es tatsächlich, selbst dem wohlgeformtesten Frauenkörper eine schrullige Wikingerpflauze anzuhängen! Gottseidank ist man davon unterdessen abgekommen. Da hat die Mode-polizei wohl doch nicht so schlecht aufgepasst! Keine Rundpassen, keine steifen Wollstoffe, sondern Baumwolle und Rollkragen. Es gibt den Norweger heute sogar als Cardigan und als Kapuzenpullover, was ihn tatsächlich tragbar macht. Den klassisch biederen Norweger mit Öko-Image tauscht man also besser gegen ein aktuelles Modell, weil es zwar immer noch von winterlichen Abenteuern in skandinavischen Outbacks erzählt, uns dabei aber nicht wie verlauste Haudegen aus einer lange vergangen Zeit aussehen lässt.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2011