- ensuite - Zeitschrift zu Kultur & Kunst - https://www.ensuite.ch -

Der Paul Bocuse des Isorhythmus

Von Luca D‘Alessandro — Der Zürcher Jaz­zpi­anist Christoph Stiefel ist der unange­focht­ene Maître des Isorhyth­mus, ein­er spät­mit­te­lal­ter­lichen Kom­po­si­tion­stech­nik, die auf der Über­lagerung rhyth­mis­ch­er Muster beruht. «Fortuna’s Smile» heisst das dritte Album, das Stiefel mit seinem Ensem­ble «Inner Lan­guage Trio» – beste­hend aus Mar­cel Papaux am Schlagzeug und Thomas Lähns am Bass – einge­spielt hat. «Es ist ein Klanger­leb­nis der beson­deren Art, das den Hör­er mitreis­sen und berühren soll», so Stiefel. Wir woll­ten es genauer wis­sen.

«Fortuna’s Smile»: Ist das das neck­ische Lächeln der Glücks­göt­tin?

(lacht) Ja, genau. Es ist nicht das Glück, das einem zuwinkt, vielmehr die Schick­sals­göt­tin, die lacht. Sie lacht immer: sowohl in guten als auch in miesen Zeit­en. Nein, im Ernst. Ich habe lange nach einem passenden Titel gesucht. Zuerst ver­suchte ich, etwas um die Begriffe Groove und Isorhyth­mus herum zu kreieren, schliesslich bildet das Konzept des Isorhyth­mus den Rah­men des Albums. Am Ende stellte ich fest, dass das alles viel zu nahe am tech­nis­chen Inhalt des Albums ste­ht. Ich wollte eine Dimen­sion weit­er gehen. Daher «Fortuna’s Smile»: Gegen­wär­tig füh­le ich mich gut, unser Trio har­moniert her­vor­ra­gend – das ist unser Glück. Was daraus weit­er entste­hen wird, ste­ht noch in den Ster­nen.

Ist es nur Glück?

Nicht nur – aber es ist wichtig. Denn Glück und magis­che Momente lassen sich nicht erzwin­gen. Glück ist wie ein Schmetter­ling: Wenn man ihn sieht und pack­en will, riskiert man, ihn zu zer­drück­en oder zu ver­lieren. Daher macht es keinen Sinn, nach ihm zu greifen. Freue dich, dass er da ist und möglichst lange ver­weilt.

Glück ist eine Frage der Per­spek­tive.

Dur­chaus. Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, im Jazzbusi­ness an Engage­ments zu kom­men, spielt Glück manch­mal auch eine wichtige Rolle. Im Aus­land zum Beispiel ist die Konkur­renz riesig: Es ist nicht selb­stver­ständlich, dass man an eine Konz­ertrei­he oder ein Fes­ti­val ein­ge­laden wird.

Und das ist ein Unglück.

Wenn es in der Kar­riere nicht so schnell wie gewün­scht vor­wärts geht, kann man darüber in der Tat unglück­lich sein. Ander­er­seits kann eine solche Sit­u­a­tion auch Glück sein: Als Musik­er bleibt mir näm­lich mehr Zeit, meine Musik weit­erzuen­twick­eln. Dadurch wird sie vielle­icht noch stärk­er und per­sön­lich­er. Aber ohne Konz­erte lässt es sich auf lange Zeit nicht leben. Der finanzielle Aspekt ist also nicht ganz zu ver­nach­läs­si­gen.

Kann sich der finanzielle Aspekt neg­a­tiv auf die Kreativ­ität auswirken?

Es kommt auf den Musik­er­typ an.

Wie ist es bei Dir?

Ich bin schon bald 49 und ver­füge über die eine oder andere Erfahrung. Zum Beispiel habe ich eine Zeit­lang die Kar­riere von Andreas Vol­len­wei­der ver­fol­gt. Ich stellte mir die Frage: Hält Andreas diesem medi­alen Druck stand? Wie wird ihn das prä­gen? Mich erstaunte, wie pro­fes­sionell er damit umge­ht. Ich habe viel gese­hen und wage daher zu behaupten, dass ich inzwis­chen die Zusam­men­hänge im Musik­busi­ness einiger­massen durch­schaue. Ich kenne mich sel­ber ganz gut und bin mir mein­er Schwächen bewusst. Solange ich sie kenne, kann ich erfol­gre­ich sein. Und so hat das auch keinen neg­a­tiv­en Ein­fluss auf den kreativ­en Out­put.

Deine Kom­po­si­tio­nen beruhen auf wieder­holten Rhyth­muswech­seln: Unter­schiedliche Rhyth­men, die einen Grund­takt über­lagern. Wech­sel und Kon­ti­nu­ität gehen sozusagen Hand in Hand.

Ja. Kon­ti­nu­ität bes­timmt unser Leben, wie zum Beispiel das tägliche Zäh­neputzen, Essen oder Schlafen. Rep­e­ti­tion gibt uns das Gefühl von Sicher­heit. Und auch in repet­i­tiv­en Tätigkeit­en kann immer wieder Neues entste­hen. Es ist eine Frage der Wahrnehmung: Jed­er Hör­er vern­immt die einzel­nen Rhyth­men in meinen Stück­en anders.

Fast jedes Dein­er Stücke ist num­meriert. Der Titel «Tis­cope Kalei­dome» zum Beispiel trägt den Zusatz «Isorhythm #21». Es scheint fast, als würdest Du Deine Vari­a­tio­nen kat­a­l­o­gisieren. Bist du ein Isorhyth­mus-Forsch­er?

(lacht) Forsch­er ist nicht schlecht. Dem kann man tat­säch­lich so sagen. Ich sehe mich nicht nur als Pianis­ten, son­dern als Erfind­er. Als ich im Rah­men eines Kom­po­si­tion­skurs­es auf das The­ma der Isorhyth­men stiess, stellte ich bald fest, dass sich bis­lang im Jazz kaum jemand mit dem Genre wirk­lich inten­siv befasst hat­te. Ich sah darin die ein­ma­lige Chance, einen ganz eige­nen Sound zu schaf­fen. Heute arbeite ich mit rund 32 Vari­a­tio­nen von Isorhyth­men, und es wer­den immer mehr.

Fusst jedes Dein­er Stücke auf einem bes­timmten isorhyth­mis­chen Ele­ment aus deinem per­sön­lichen Reper­toire?

Alle Stücke sind sehr ver­schieden voneinan­der, und auch ihre Entste­hung ist unter­schiedlich. In der Regel gehe ich von ein­er rhyth­mis­chen Idee aus. Es gibt aber auch Kom­po­si­tio­nen, die aus ein­er Melodie her­aus entste­hen. Diese «kom­pos­i­torische Grun­didee» erweit­ere ich dann mit har­monis­chen und melodis­chen Kom­po­nen­ten. Am Ende kom­men die impro­visierten Teile dazu, die jedoch erst beim Zusam­men­spiel im Ensem­ble ihre endgültige Form find­en.

Impro­vi­sa­tio­nen über ein Rhyth­mus­gemisch sind gar nicht so ein­fach. Wie löst Dein Trio dieses Dilem­ma?

Für jedes Stück haben wir eine eigene Lösung. «Aura» zum Beispiel hat einen unger­aden Rhyth­mus: Es ist im 15/16-Takt gehal­ten und erfordert entsprechend unsere voll­ste Aufmerk­samkeit. Für den Impro­vi­sa­tion­steil gehen wir zu einem ger­aden Metrum über, damit wir uns voll und ganz der Impro­vi­sa­tion zuwen­den kön­nen. «Aura» erlaubt einen solchen Wech­sel, ohne dass ein Bruch entste­ht, aber das ist nicht bei jedem Stück der Fall.

Ger­ade und unger­ade Tak­te, Anord­nun­gen und Impro­vi­sa­tio­nen: Gegen­satz­paare kom­men in Deinen Kom­po­si­tio­nen in allen möglichen Vari­anten vor.

Ja. Ein Jour­nal­ist hat es ein­mal sehr tre­f­fend for­muliert: «Das Inner Lan­guage Trio bewegt sich zwis­chen Diszi­plin und Ent­fes­selung.» Es braucht unglaublich viel Diszi­plin, unsere Werke zu spie­len. Sie tönen nicht nur sehr schwierig, sie sind es auch. Aber an den Konz­erten spie­len wir die Stücke nicht nach Drehbuch. Wir gewähren uns so viele Frei­heit­en wie nur möglich. In solchen Sit­u­a­tio­nen stelle ich zwis­chen­durch fest, wie schw­er es ist, die Band­kol­le­gen zu bändi­gen.

Ist das schlimm für Dich? Wenn die Kol­le­gen auss­er Rand und Band ger­at­en, kön­nte man das auch als Kom­pli­ment ver­ste­hen.

Gewiss, deshalb will ich diese Euphorie auf keinen Fall ver­hin­dern.

Aber sie entspricht nicht Deinen Vorstel­lun­gen.

Als Rhyth­mik­er habe ich klare Ansicht­en über das Rhyth­mus­ge­bilde. Alles, was den Rhyth­mus stört, stört auch mich. Ich habe aber gel­ernt, zu akzep­tieren, dass andere Musik­er meine Kom­po­si­tio­nen anders wahrnehmen.

Was geht in Dir vor, wenn Deine Idee anders inter­pretiert wird?

Wenn ich Mar­cel Papaux am Schlagzeug beobachte, wie er aus den rigi­den Rhyth­musstruk­turen aus­bricht, oder wenn ich die unglaubliche Energie spüre, die von Thomas Lähns am Bass aus­ge­ht, gibt das mir eine neue Sicht auf die eigene Kom­po­si­tion. Ich frage mich dann: Wo stün­den wir, wenn wir das Reper­toire jeden Abend nach dem gle­ichen Muster abspulen wür­den? Würde uns das Pub­likum noch zuhören wollen? Ich denke nicht. Den Leuten ist es doch egal, ob der Rhyth­mus hun­dert­prozentig einge­hal­ten wird. Schliesslich gibt es keine Jaz­zpolizei, die pin­gelig genau auf die Ein­hal­tung des Grund­musters achtet (lacht). Viel wichtiger ist es, dass gemein­sam etwas passiert und das Pub­likum mit ein­be­zo­gen wird. Ich habe gel­ernt, mit mein­er Musik freier umzuge­hen und andere Inter­pre­ta­tio­nen zu akzep­tieren.

Dann wollen wir Dich mal auf die Probe stellen: Das Lied «Eclipse» sug­geriert klan­glich eine Son­nenun­ter­gangsstim­mung in der Savanne … Was hältst Du von dieser Inter­pre­ta­tion?

Super, wun­der­bar! Ich will nie­man­dem vorschreiben, was er oder sie sich beim Hören mein­er Musik vorstellen soll. Ich per­sön­lich stelle mir in «Eclipse» das Über­lagern zweier Him­mel­skör­p­er vor, ana­log zu den über­lagerten Rhyth­men. Mir geht es aber nicht unbe­d­ingt darum, mein Bild zu über­mit­teln, zumal die Inter­pre­ta­tion des Stücks an jedem Konz­ert anders aus­fällt. Daher: Mir gefall­en die Emo­tio­nen der Hörerin­nen und Hör­er. Feed­backs finde ich immer span­nend.

Foto: zVg.
ensuite, April 2010