Von Luca D‘Alessandro — Der Zürcher Jazzpianist Christoph Stiefel ist der unangefochtene Maître des Isorhythmus, einer spätmittelalterlichen Kompositionstechnik, die auf der Überlagerung rhythmischer Muster beruht. «Fortuna’s Smile» heisst das dritte Album, das Stiefel mit seinem Ensemble «Inner Language Trio» – bestehend aus Marcel Papaux am Schlagzeug und Thomas Lähns am Bass – eingespielt hat. «Es ist ein Klangerlebnis der besonderen Art, das den Hörer mitreissen und berühren soll», so Stiefel. Wir wollten es genauer wissen.
«Fortuna’s Smile»: Ist das das neckische Lächeln der Glücksgöttin?
(lacht) Ja, genau. Es ist nicht das Glück, das einem zuwinkt, vielmehr die Schicksalsgöttin, die lacht. Sie lacht immer: sowohl in guten als auch in miesen Zeiten. Nein, im Ernst. Ich habe lange nach einem passenden Titel gesucht. Zuerst versuchte ich, etwas um die Begriffe Groove und Isorhythmus herum zu kreieren, schliesslich bildet das Konzept des Isorhythmus den Rahmen des Albums. Am Ende stellte ich fest, dass das alles viel zu nahe am technischen Inhalt des Albums steht. Ich wollte eine Dimension weiter gehen. Daher «Fortuna’s Smile»: Gegenwärtig fühle ich mich gut, unser Trio harmoniert hervorragend – das ist unser Glück. Was daraus weiter entstehen wird, steht noch in den Sternen.
Ist es nur Glück?
Nicht nur – aber es ist wichtig. Denn Glück und magische Momente lassen sich nicht erzwingen. Glück ist wie ein Schmetterling: Wenn man ihn sieht und packen will, riskiert man, ihn zu zerdrücken oder zu verlieren. Daher macht es keinen Sinn, nach ihm zu greifen. Freue dich, dass er da ist und möglichst lange verweilt.
Glück ist eine Frage der Perspektive.
Durchaus. Wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, im Jazzbusiness an Engagements zu kommen, spielt Glück manchmal auch eine wichtige Rolle. Im Ausland zum Beispiel ist die Konkurrenz riesig: Es ist nicht selbstverständlich, dass man an eine Konzertreihe oder ein Festival eingeladen wird.
Und das ist ein Unglück.
Wenn es in der Karriere nicht so schnell wie gewünscht vorwärts geht, kann man darüber in der Tat unglücklich sein. Andererseits kann eine solche Situation auch Glück sein: Als Musiker bleibt mir nämlich mehr Zeit, meine Musik weiterzuentwickeln. Dadurch wird sie vielleicht noch stärker und persönlicher. Aber ohne Konzerte lässt es sich auf lange Zeit nicht leben. Der finanzielle Aspekt ist also nicht ganz zu vernachlässigen.
Kann sich der finanzielle Aspekt negativ auf die Kreativität auswirken?
Es kommt auf den Musikertyp an.
Wie ist es bei Dir?
Ich bin schon bald 49 und verfüge über die eine oder andere Erfahrung. Zum Beispiel habe ich eine Zeitlang die Karriere von Andreas Vollenweider verfolgt. Ich stellte mir die Frage: Hält Andreas diesem medialen Druck stand? Wie wird ihn das prägen? Mich erstaunte, wie professionell er damit umgeht. Ich habe viel gesehen und wage daher zu behaupten, dass ich inzwischen die Zusammenhänge im Musikbusiness einigermassen durchschaue. Ich kenne mich selber ganz gut und bin mir meiner Schwächen bewusst. Solange ich sie kenne, kann ich erfolgreich sein. Und so hat das auch keinen negativen Einfluss auf den kreativen Output.
Deine Kompositionen beruhen auf wiederholten Rhythmuswechseln: Unterschiedliche Rhythmen, die einen Grundtakt überlagern. Wechsel und Kontinuität gehen sozusagen Hand in Hand.
Ja. Kontinuität bestimmt unser Leben, wie zum Beispiel das tägliche Zähneputzen, Essen oder Schlafen. Repetition gibt uns das Gefühl von Sicherheit. Und auch in repetitiven Tätigkeiten kann immer wieder Neues entstehen. Es ist eine Frage der Wahrnehmung: Jeder Hörer vernimmt die einzelnen Rhythmen in meinen Stücken anders.
Fast jedes Deiner Stücke ist nummeriert. Der Titel «Tiscope Kaleidome» zum Beispiel trägt den Zusatz «Isorhythm #21». Es scheint fast, als würdest Du Deine Variationen katalogisieren. Bist du ein Isorhythmus-Forscher?
(lacht) Forscher ist nicht schlecht. Dem kann man tatsächlich so sagen. Ich sehe mich nicht nur als Pianisten, sondern als Erfinder. Als ich im Rahmen eines Kompositionskurses auf das Thema der Isorhythmen stiess, stellte ich bald fest, dass sich bislang im Jazz kaum jemand mit dem Genre wirklich intensiv befasst hatte. Ich sah darin die einmalige Chance, einen ganz eigenen Sound zu schaffen. Heute arbeite ich mit rund 32 Variationen von Isorhythmen, und es werden immer mehr.
Fusst jedes Deiner Stücke auf einem bestimmten isorhythmischen Element aus deinem persönlichen Repertoire?
Alle Stücke sind sehr verschieden voneinander, und auch ihre Entstehung ist unterschiedlich. In der Regel gehe ich von einer rhythmischen Idee aus. Es gibt aber auch Kompositionen, die aus einer Melodie heraus entstehen. Diese «kompositorische Grundidee» erweitere ich dann mit harmonischen und melodischen Komponenten. Am Ende kommen die improvisierten Teile dazu, die jedoch erst beim Zusammenspiel im Ensemble ihre endgültige Form finden.
Improvisationen über ein Rhythmusgemisch sind gar nicht so einfach. Wie löst Dein Trio dieses Dilemma?
Für jedes Stück haben wir eine eigene Lösung. «Aura» zum Beispiel hat einen ungeraden Rhythmus: Es ist im 15/16-Takt gehalten und erfordert entsprechend unsere vollste Aufmerksamkeit. Für den Improvisationsteil gehen wir zu einem geraden Metrum über, damit wir uns voll und ganz der Improvisation zuwenden können. «Aura» erlaubt einen solchen Wechsel, ohne dass ein Bruch entsteht, aber das ist nicht bei jedem Stück der Fall.
Gerade und ungerade Takte, Anordnungen und Improvisationen: Gegensatzpaare kommen in Deinen Kompositionen in allen möglichen Varianten vor.
Ja. Ein Journalist hat es einmal sehr treffend formuliert: «Das Inner Language Trio bewegt sich zwischen Disziplin und Entfesselung.» Es braucht unglaublich viel Disziplin, unsere Werke zu spielen. Sie tönen nicht nur sehr schwierig, sie sind es auch. Aber an den Konzerten spielen wir die Stücke nicht nach Drehbuch. Wir gewähren uns so viele Freiheiten wie nur möglich. In solchen Situationen stelle ich zwischendurch fest, wie schwer es ist, die Bandkollegen zu bändigen.
Ist das schlimm für Dich? Wenn die Kollegen ausser Rand und Band geraten, könnte man das auch als Kompliment verstehen.
Gewiss, deshalb will ich diese Euphorie auf keinen Fall verhindern.
Aber sie entspricht nicht Deinen Vorstellungen.
Als Rhythmiker habe ich klare Ansichten über das Rhythmusgebilde. Alles, was den Rhythmus stört, stört auch mich. Ich habe aber gelernt, zu akzeptieren, dass andere Musiker meine Kompositionen anders wahrnehmen.
Was geht in Dir vor, wenn Deine Idee anders interpretiert wird?
Wenn ich Marcel Papaux am Schlagzeug beobachte, wie er aus den rigiden Rhythmusstrukturen ausbricht, oder wenn ich die unglaubliche Energie spüre, die von Thomas Lähns am Bass ausgeht, gibt das mir eine neue Sicht auf die eigene Komposition. Ich frage mich dann: Wo stünden wir, wenn wir das Repertoire jeden Abend nach dem gleichen Muster abspulen würden? Würde uns das Publikum noch zuhören wollen? Ich denke nicht. Den Leuten ist es doch egal, ob der Rhythmus hundertprozentig eingehalten wird. Schliesslich gibt es keine Jazzpolizei, die pingelig genau auf die Einhaltung des Grundmusters achtet (lacht). Viel wichtiger ist es, dass gemeinsam etwas passiert und das Publikum mit einbezogen wird. Ich habe gelernt, mit meiner Musik freier umzugehen und andere Interpretationen zu akzeptieren.
Dann wollen wir Dich mal auf die Probe stellen: Das Lied «Eclipse» suggeriert klanglich eine Sonnenuntergangsstimmung in der Savanne … Was hältst Du von dieser Interpretation?
Super, wunderbar! Ich will niemandem vorschreiben, was er oder sie sich beim Hören meiner Musik vorstellen soll. Ich persönlich stelle mir in «Eclipse» das Überlagern zweier Himmelskörper vor, analog zu den überlagerten Rhythmen. Mir geht es aber nicht unbedingt darum, mein Bild zu übermitteln, zumal die Interpretation des Stücks an jedem Konzert anders ausfällt. Daher: Mir gefallen die Emotionen der Hörerinnen und Hörer. Feedbacks finde ich immer spannend.
Foto: zVg.
ensuite, April 2010