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Der perfekte Kapitalismus

Von Patrik Etschmay­er - Unsere Welt beste­ht aus Geschicht­en. Leben sind Geschicht­en. Die Geschichte beste­ht aus Geschicht­en. Philoso­phien und Reli­gio­nen sind Geschicht­en. Ide­olo­gien sind Geschicht­en.  Alles Sto­rys, die zwar eine offe­nen Aus­gang haben, aber vielfach klare Pro­tag­o­nis­ten und Antag­o­nis­ten und eine Kon­klu­sion, einen Abschluss, selb­st wenn dieser noch nicht stattge­fun­den hat. Und geht es nicht so, wie die Geschicht­en­erzäh­ler es ver­sprechen, dann sind die Bösen schuld oder die Guten waren nicht gut genug.

Nicht zulet­zt in den Ide­olo­gien sind die Bösen immer die anderen. Vor allem in der puren Lehre, wobei sich Kom­mu­nis­mus und Kap­i­tal­is­mus in der Rein­form nichts geben, wenn es ums Mor­den geht. Der Kom­mu­nis­mus tötet vielfach aktiv, während der Kap­i­tal­is­mus das Umbrin­gen von Men­schen im Inter­esse des Prof­its hinge­gen zwar nicht toll find­et, aber mit um so grausamer­er Gle­ichgültigkeit zur Ken­nt­nis nimmt.

Dass Kom­mu­nis­mus mörderisch ist, muss nie­mand mehr beweisen: Die rasende Mord­lust eines Stal­in gab davon beredt Zeug­nis. Doch der Kap­i­tal­is­mus ist, wenn mal los­ge­lassen, genau so schlimm. Dies wird seit Jahren ein­drück­lich in den USA und nun, wenn wir nicht auf­passen, auch bald in Europa an einem Fall per­fekt demon­stri­ert: jen­em der Opi­oid­krise.

Die soge­nan­nte Opi­oide­pidemie ver­wüstet seit Jahren die Gesellschaft ganz­er Land­striche der USA. Diese Epi­demie ist das Resul­tat von Lob­by­ing, Wer­bung und dem Ziel, legal möglichst viel Gewinn zu machen, selb­st wenn dies das Leben Tausender Men­schen kostet. Die Fir­ma Pur­due Phar­ma, die im Besitz der Sack­ler-Fam­i­lie ist, die durch grosszügige Spenden an Uni­ver­sitäten und Museen als phil­an­thropisch bekan­nt wurde, propagierte 1996 bis 2001 mit ein­er Lobby‑, Mar­ket­ing- und Stu­di­enkam­pagne die Behaup­tung, dass das Risiko der Abhängigkeit von Opi­oiden (von denen Mor­phin und Hero­in wohl die bekan­ntesten sind) als viel zu hoch eingeschätzt und diese deshalb zu wenig ver­schrieben wür­den. Das Ziel war dabei, den Absatz eines syn­thetis­chen Opi­oid, der Oxy­codon-Vari­ante Oxy­con­tin (die den Wirk­stoff verzögert abgibt) zu fördern. Oxy­codon existiert schon seit mehr als 100 Jahren und hat­te unter dem Namen Euko­dal eine gewisse Berühmtheit erlangt, gehörte es doch in den 1940er-Jahren zu dem Medika­menten­cock­tail, den Leibarzt Dr. Theodor Morell Adolf Hitler injiziert hat­te.

Oxy­con­tin sollte der neue Super­hit wer­den. Entschei­dend war dabei, dass nicht mehr nur ter­mi­nale Kreb­spa­tien­ten diese extrem wirk­samen, aber auch sucht­ge­fährliche Sub­stanz ver­schrieben bekom­men soll­ten, son­dern auch Men­schen mit nicht letal­en chro­nis­chen Schmerzprob­le­men. Um dies zu erre­ichen, mussten die Zulas­sungs­be­hör­den und Ärzte davon überzeugt wer­den, dass der Him­mel rot und Gras rosa ist, beziehungsweise dass Oxy­con­tin keine Sucht erzeugt und auch chro­nis­che Schmerzen auf Dauer erfol­gre­ich bekämpft. Bei­des Dinge, die bekan­nter­massen falsch waren und sind. Trotz­dem schafften es die Lügen- und Pro­pa­gan­damass­nah­men (Phar­makon­gresse in der Karibik sind eben schon ein­drück­lich) von Pur­due, einen radikalen Wech­sel der Ein­stel­lung zu «Oxy» zu bewirken. Dazu kam das abso­lut berechtigte Anliegen von Behör­den und Patien­tenor­gan­i­sa­tio­nen, Schmerz­pa­tien­ten und ihr Lei­den ern­ster zu nehmen und ihnen den Zugang zu besseren und wirk­samen Behand­lun­gen zu ermöglichen.

So wur­den – aus hehren und weniger edlen Motiv­en – die Reg­ulierun­gen und die Ver­schrei­bung­sprax­is erst ange­grif­f­en und dann gelock­ert. Die Rezep­tierun­gen schossen astronomisch in die Höhe. Von 1991 bis 2011 ver­dreifacht­en sich die Rezepte für Opi­oide und erre­icht­en 2011 219 Mil­lio­nen Ver­schrei­bun­gen pro Jahr. 2016 waren es nochmals 70 Mil­lio­nen mehr. Par­al­lel stiegen auch die Gewinne von Pur­due, die mit Fen­tanyl neben Oxy­con­tin einen noch stärk­eren Schmerzham­mer im Arse­nal hat.

Seit solche Schmerzmit­tel auch nach Arbeit­sun­fällen und bei chro­nis­chen Prob­le­men freizügig ver­schrieben wur­den, erhöht­en sich die Todes­fälle durch Opi­oide per­ma­nent. Allerd­ings schossen zuerst Todes­fälle durch andere – ille­gale – Opi­oide stark in die Höhe, die vielfach von abhängig gewor­de­nen Patien­ten ver­wen­det wur­den, als ihre Rezepte nicht ver­längert wur­den. Doch – obwohl dieser «Sekundär­markt» immer noch am Wach­sen ist – schiessen die Todes­fälle durch syn­thetis­che Opi­oide seit 2013 fast senkrecht nach oben und set­zten sich 2015 an die Spitze der trau­ri­gen Todesur­sachen­hit­pa­rade für Dro­gen­tote in den USA. Dazu habe auch das immer stärkere Auf­tauchen von Fen­tanyl im Dro­gen­han­del beige­tra­gen, es ist 100-mal stärk­er als Mor­phi­um. 2017 star­ben über 29 400 Men­schen an ein­er Über­do­sis syn­thetis­ch­er Opi­oide. Das sind täglich 80. Zudem sind diese Dro­gen auch in Tausende Todes­fälle in Kom­bi­na­tion mit anderen ille­galen Sub­stanzen verquickt.

Diese Zahlen bele­gen ein­drück­lich, dass Opi­oide abhängig machen und keineswegs unprob­lema­tisch sind. 2007 musste Pur­due Phar­ma diese Lüge auch vor Gericht zugeben, als die Fir­ma und ihre Führungskräfte sich schuldig bekan­nten, die Öffentlichkeit über die Gefährlichkeit ihres Best­sellers in die Irre geführt zu haben. Die 635 Mil­lio­nen Dol­lar Gesamt­busse und 400 Stun­den Com­mu­ni­ty-Ser­vice sind trotz­dem ein Klacks, betra­chtet man das Elend und den Schmerz, die hier wis­send über die Patien­ten gebracht wur­den. Die durch­schnit­tliche Lebenser­wartung von US-Bürg­ern ist in den let­zten Jahren auf­grund der Opi­oid­krise gesunken, die Anzahl von Waisenkindern steigt an (zwis­chen 2012 und 2015 um acht Prozent oder 30 000, in den 14 am stärk­sten betrof­fe­nen Staat­en sog­ar um ein Vier­tel) und Kinder müssen sich um ihre kleinen Geschwis­ter küm­mern und sich darum sor­gen, ob ihre süchti­gen Eltern am Mor­gen aus ihrem Dro­gen­rausch wieder aufwachen oder über­dosiert haben und tot im Bett liegen. Das Leid und das Elend sind unfass­bar.

Und sie zeigen, wie psy­chopathisch und kalt Fir­men sind, ja beina­he sein müssen, wenn sie den total­en Prof­it ins Zen­trum ihrer Tätigkeit stellen. Pur­due und die anderen Her­steller dieser Schmerzmit­tel wussten um den möglichen Markt und hat­ten die Pro­duk­te, um diesen zu über­schwem­men. Als Schmerz als behand­lungswürdi­ges Kri­teri­um auf dem Radar auf­tauchte, halfen sie, dieses ins Zen­trum des Fokus zu rück­en. Und als in ein­er Fachzeitschrift noch ein Artikel darüber erschien, dass Patien­ten sel­ten Opi­oid­ab­hängigkeit­en entwick­el­ten (es han­delte sich dabei aber um Patien­ten in sta­tionär­er Behand­lung), war der Startschuss für diese mörderische Kam­pagne gefall­en. Eine Kam­pagne, die von ein­er ange­se­henen Fir­ma geführt wurde, die 2017 drei Mil­liar­den Dol­lar Gewinn gemacht und noch 2016 abso­lut legal Oxy­con­tin für 31 Mil­liar­den verkauft hat.

Die Saat, die damals, vor 20 Jahren, gesät wurde, ist nun aufge­gan­gen, und nur langsam greifen die vom Staat geset­zten Gegen­mass­na­men. Der voll­mundig beschworene «Krieg gegen Dro­gen» wurde nur sehr halb­herzig, wenn über­haupt, in die Vor­stand­sz­im­mer der Phar­mafir­men getra­gen. Mexikan­er mit Schlangen­led­er­jack­en und dia­mantbe­set­zten Colts machen eben bessere Feind­bilder als alte Her­ren in Anzug mit sauber geknüpfter Krawat­te, die mal schnell einen Muse­ums­flügel mit altä­gyp­tis­chen Kul­turgütern spenden.

Dabei hat Pur­due Phar­ma – die sich jet­zt, da in den USA jet­zt sehr langsam Mass­nah­men gegen Opi­oide zu greifen begin­nen, in Europa nach neuen Märk­ten umsieht – aus rein kap­i­tal­is­tis­ch­er Sicht alles richtig gemacht. Pur­due hat einen Markt erkan­nt, diesen geöffnet, dafür gesorgt, dass die Kun­den beim Pro­dukt bleiben (solange sie es bezahlen kön­nen), und blieb selb­st, nach­dem klar war, dass sie Geset­ze gebrochen hat, immer noch der Hauptver­sorg­er dieses Mark­ts. Für die verur­sacht­en Schä­den kom­men Ange­hörige, Gemein­den, Ver­sicherun­gen und der Staat auf.

Und das war auch schon die Geschichte – die Geschichte des per­fek­ten Kap­i­tal­is­mus. Bess­er kann man es nicht machen. Denn was zählt ist, was am Schluss in der eige­nen Kasse ist. Und bei Pur­due ist das ver­dammt nicht wenig.

Artikel online veröffentlicht: 25. Dezember 2018 – aktualisiert am 4. Februar 2019