Von Heike Gerling — Am 6. November 2013 veröffentlichte das Präsidialdepartement der Stadt Zürich eine Medienmitteilung. Ihr schnittiger Titel liess auf modische Inhalte schliessen: «Neue Akzente für die Literaturstadt Zürich». Verlautbart wurde, dass das Literaturmuseum Strauhof anlässlich der Pensionierung seines Leiters Roman Hess auf Ende 2014 geschlossen werden solle. Die Stadt plane, in den Räumlichkeiten des bisherigen Literaturmuseums und der James-Joyce-Stiftung – letzterer legt sie einen Umzug in ein geplantes Archivzentrum im Museum Bärengasse nahe – ein «Junges Literaturlabor» einzurichten, abgekürzt «Jull». Der «Fokus» liege neuerdings auf Kindern und Jugendlichen, für die im Strauhof künftig Schreibworkshops angeboten werden sollten. Das Haus soll zu diesem Zweck – kein Witz! – der «Provinz GmbH» überantwortet werden, die seit 2005 das Projekt «Schulhausroman» aufgebaut hat: Die beiden Initianten bieten Schreibworkshops für Kinder und Jugendliche an, die sich grosser Beliebtheit erfreuten. Richard Reich und Gerda Wurzenberger haben diese Arbeit bisher mit Erfolg in Schulhäusern geleistet – nach den Plänen des Kulturdepartements sollen sie ihr Programm künftig in einer eigens dafür reservierten Liegenschaft anbieten und in die Räumlichkeiten des Strauhofs einziehen, eines barocken Wohnhauses, das in den 80er Jahren zum Museum umgebaut wurde.
Seit 1989 hat sich der Strauhof zunächst unter der Leitung von Nikolaus Baerlocher und ab 2002 unter der Leitung von Roman Hess von einem kulturhistorischen Museum zu einem international hochangesehenen Literaturmuseum entwickelt. Sein Konzept, Literatur – von klassischen bis hin zu zeitgenössischen Autoren — mit veranschaulichenden, den kulturhistorischenden Kontext einbeziehenden Ausstellungen generationenübergreifend und lebendig zu vermitteln, wurde in den letzten Jahren zum Vorbild, an dem man sich anderenorts – etwa in Marbach, Berlin, Frankfurt – orientiert, um Vergleichbares aufzubauen. Mit grösster Selbstverständlichkeit hat Roman Hess mit seinem kompetenten, engagierten Team ein höchst innovatives und zugleich angenehm unprätentiöses Projekt entwickelt, das der Literatur im wahrsten Sinne des Wortes dient und die Zürcher Stadtkultur jenseits aller Zahlen unschätzbar bereichert.
Den seit 2010 amtierenden, von SP-Stadtpräsidentin Corine Mauch inthronisierten Leiter des Kulturdepartements der Stadt Zürich, Peter Haerle, scheint dies wenig zu interessieren.
Die Belegschaft des Museums erfuhr von ihrer künftigen Arbeitslosigkeit durch oben erwähnte Medienmitteilung. Der Schliessbefehl traf das Museum aus heiterem Himmel: Peter Haerle hat allen bisherigen Informationen zufolge vor der Medienmitteilung weder das Gespräch mit der Leitung des Museums und den Mitarbeitern gesucht, noch seien bevorstehende Veränderungen in der Konzeption des Museums thematisiert worden. An mangelnden Besucherzahlen, mangelndem Engagement der Mitarbeiter oder mangelnder Qualität ihrer Arbeit kann es nicht gelegen haben – die Besucherzahlen des Museums lagen in den letzen drei Jahren vor Haerles Schliessbefehl jeweils etwa doppelt so hoch wie 2007, und das Literaturmuseum Strauhof geniesst über den deutschsprachigen Raum hinaus international ein hohes internationales Ansehen.
Nicht nur die deutschsprachige Qualitätspresse und Literaturinteressierte des benachbarten Auslands haben Bedauern, Befremden und Kritik an der Verlautbarung des Präsidialdepartementes; neben vielen Persönlichkeiten der Zürcher Literaturwelt melden sich auch renommierte Wissenschaftler und Museen aus dem nicht deutschsprachigen Ausland zu Wort und betonen ihre Wertschätzung des Museums. Man befürchtet eine Verarmung und Provinzialisierung des Zürcher Kulturlebens.
Die Mitarbeiter gründen ein Komitee zur Rettung des Literaturmuseums; sie organisieren eine Petition für seine Erhaltung und beginnen Unterschriften zu sammeln: Innerhalb von knapp vier Wochen unterzeichnen 5’000 Personen. Deren Unterschriften werden zusammen mit zahlreichen fundierten und differenzierten schriftlichen Stellungnahmen der Unterzeichner am 3. Dezember 2013 der Stadtpräsidentin und ihrem Kulturchef öffentlich überreicht. Unter den Stimmen, die sich für eine Rettung des Literaturmuseums Strauhof einsetzen (eine Auswahl ist auf der Webseite des Strauhof-Komitees nachzulesen: http://www.proliteratur-strauhof.org/petition/) sind auch bemerkenswert viele Lehrer. Die Unterschriften und Stellungnahmen werden ergänzt durch einen Fragenkatalog der Mitarbeiter des Museums an den Stadtrat. Die Beantwortung der Petition und der Fragen des Komitees steht bisher aus.
Der Auszug aus dem Stadtratsprotokoll, der den Beschluss des Stadtrates vom 30. 10. 2013 dokumentiert und auf dem die Medienmitteilung zur Schliessung des Museums Strauhof basiert, ist knapp 11 Seiten lang. Die besondere Qualität des bisherigen Literaturmuseums wird darin mit wenigen kargen Sätzen kaum angedeutet. Von einer weiteren Zukunft der Institution nach der Pensionierung des bisherigen Leiters Roman Hess ist im Protokoll nie die Rede; eine Weiterführung unter anderer Leitung wurde – aus welchen Gründen, bleibt völlig unklar – offenbar nicht einmal erwogen. Stattdessen ist das von Haerle für die Zukunft auserkorene Projekt «Jull» in besagtem Protokollauszug ausführlichst dargestellt, inklusive administrativer Details zu dessen Implementierung und der Abwicklung des Literaturmuseums.
Kaum 16 Zeilen verschwendet das Stadtratsprotokoll dafür, mitzuteilen, dass es in Zukunft im Strauhof «keine Literaturausstellungen mehr in der bisherigen Form» geben solle; der an Literatur interessierten Öffentlichkeit wird somit kurzerhand der Raum entzogen, ohne dass es dafür eine Debatte gegeben hätte, die dieses Vorgehen der Administration im Geringsten rechtfertigen würde. Der «kulturhistorischen Dimension in der Literatur» wolle man insofern Rechnung tragen, als vier andere Kulturinstituionen künftig «in loser Folge» Literaturausstellungen anbieten sollten, verkündet das Protokoll. Dass die Ausstellungen im Strauhof einiges mehr als eine kulturhistorische Dimension der Literatur vermitteln, ist bei allen Unterschieden in Inhalt und Konzeption ebenso in der aktuellen Ausstellung über Georg Büchner zu erleben, wie in der letzten Ausstellung des Literaturmuseums zum Schaffen von Alfred und Gisela Andersch.
Die absolute Präferenz, die Haerle dem Jugendworkshop-Projekt «Jull» einräumt, befremdet umso mehr, als das Personal des Literaturmuseums im Frühjahr 2013 angewiesen worden sein soll, die Anzahl der angebotenen Workshops zu reduzieren – von bisher 20 bis 25 auf nur noch 10 pro Ausstellung; und dies, obwohl die Nachfrage seitens der Schulen gleich hoch war wie vorher. Lukas Germann, Co-Leiter des bisherigen Workshop-Programms im Strauhof, teilte im Gespräch mit der NZZ am 18. 1. 2014 zudem mit, er habe die Workshops vor ein paar Jahren ausbauen wollen, es sei ihm aber seitens der Kulturförderung beschieden worden, das Haus habe keinen entsprechenden Bildungsauftrag. Warum also soll jetzt plötzlich mit dem Projekt «Jull» ein Workshop-Programm als «Monokultur» im Strauhof installiert werden? Wollte man künstlich einen «Mangel» erzeugen, den man später mit dem Projekt «Jull» siegreich beheben würde? Stört die Administration die altersmässige Heterogenität des Publikums am Strauhof? Hält der Kulturchef Literatur für «Kinderkram», für den Erwachsenen kein Raum mehr zuzugestehen ist?
Angeprochen auf den starken Widerstand gegen die Schliessung des Literaturmuseums hat Peter Haerle in Medieninterviews des öfteren geantwortet, er wundere sich nicht darüber, da Kultur ein «emotionales Gebiet» sei. Für seine eigene Position beansprucht er demnach also implizit Rationalität. Liest man das Stadtratsprotokoll, drängt sich die Frage auf, welche Art von Emotionen hier wirksam waren und inwiefern Verstand am Werk war. Meinte man, sich eine «Bauch-Entscheidung» leisten zu können, da man sich bei der Kultur in «emotionalem Gebiet» wähnt? Das Vorgehen Haerles erscheint irrational und unprofessionell.
Anlässlich der vom Strauhof-Komitee initiierten und von Klara Obermüller geleiteten öffentlichen Diskussionsveranstaltung am 27. Februar waren zahlreiche Argumente zu hören, die erneut darauf hinweisen, dass Haerles Vorgehen die sachliche Grundlage fehlt. So erinnerte neben dem Verleger Bernhard Echte auch die Mittelschullehrerin Barbara Weinmann in einem sehr differenzierten Votum daran, dass Haerle mit «Jull» in etwas zu investieren beabsichtigt, an dem ohnehin kein Mangel herrscht. Das erscheint umso paradoxer, als der ausschlaggebende Grund für die Schliessung des Literaturmuseums die Finanzen gewesen sein sollen.
Bernhard Echte konstatierte, dass betreffend des Museums Strauhof offensichtlich keine Evaluation stattgefunden hat, bei der man versucht hätte, den Wert des Literaturmuseums einzuschätzen. Man habe es versäumt, abzuwägen, ob andere Orte geeignet seien, das Literaturmuseum und das James-Joyce-Archiv aufzunehmen.
Sollte in diesen Tagen die ETH darauf verzichten, mit dem Thomas-Mann-Archiv und dem Max-Frisch-Archiv in das von Haerle geplante «Literaturzentrum» an der Bärengasse umzuziehen, wird Haerles am 27. 2. vorgebrachter «Kompromissvorschlag», eine private Trägerschaft könne mit einem von der Stadt angebotenen Miniatur-Budget von 130’000 Franken pro Jahr den Betrieb des Literaturmuseums an der Bärengasse auf einer dafür verfügbaren, deutlich kleineren Fläche weiterzuführen versuchen, im luftleeren Raum stehen.
Wo keine ausreichenden sachlichen Argumente vorgebracht werden, fragt sich, was der Entscheidung tatsächlich zugrundeliegt. Das blosse Gutdünken des Kulturchefs wäre das Gegenteil einer «berechenbaren Politik», wie sie Corine Mauch vor ihrer Wiederwahl als Stadtpräsidentin versprochen hat. Eine souveräne Haltung könnte auch darin bestehen, eine Fehlentscheidung als solche einzugestehen und rückgängig zu machen.
Am 10. Januar verkündete Kulturchef Haerle in einem Interview in der NZZ die Erkenntnis, dass der Strauhof nicht der Louvre sei. Ja, richtig, Zürich ist nicht Paris. Und noch ist der Strauhof ein Literaturmuseum, nicht ein Kunstmuseum. Nein, Herr Keller, wir hoffen nicht, dass sich in Seldwyla eine weitere Provinzposse anbahnt.
Foto: zVg.
ensuite, April 2014