Von Hannes Liechti — «Hip-Hop is dead». Darüber sind sich die deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT und der amerikanische Rapper Nas einig. Letzterer benannte bereits 2006 sein Album nach dieser provokativen Floskel, während die deutsche Wochenzeitung vergangenen September ins gleiche Horn blies. Wenn Hip-Hop tot ist, was bitteschön ist die Alternative? ZEIT-Autor Thomas Winkler liefert die Antwort gleich selber mit: «Der alte Soul ist der neue Rap». Und damit hat er vollkommen recht, was ein Blick auf einige Neuerscheinungen zeigt.
Zuoberst auf der Liste steht der Amerikaner Aloe Blacc. Mit «I Need A Dollar» lieferte er diesen Sommer den verspäteten Soundtrack zur Wirtschaftskrise. Er singt:
«I had a job but the boss man let me go / He said I‘m sorry but I won‘t be needing your help no more / I said please mister boss man I need this job more than you know / But he gave me my last paycheck and he sent me on out the door»
Diese Hoffnungslosigkeit ertränkt der Protagonist schlussendlich in «Whiskey and Wine». Dazwischen immer wieder der verzweifelte Ruf nach Geld: «I need a dollar dollar, a dollar is what I need». Die Musik unterstützt diese Forderung mit nachdrücklich hämmernden Klavier-Akzenten. Unter dem Strich ein Ohrwurm, der es bis zum Titellied der TV-Serie «How To Make It In America» des amerikanischen Fernsehsenders HBO geschafft hat.
Man fühlt sich Mitten in die sechziger Jahre zurückversetzt, hört man Blaccs Album «Good Things». Groovige Bassläufe, die auch einmal Gil Scott-Heron zitieren, knackige Bläsereinwürfe, funky Gitarrenriffs und dazu die glasklare und warme Stimme von Blacc. Auf dem Cover präsentiert sich der amerikanische Sänger adrett gekleidet in weissem Anzug mit roter Fliege und steht somit auch in Sachen Auftreten den sechziger Jahren in nichts nach. Blacc, der vor vier Jahren noch ein Rap-Album herausgebracht hat, erklärt in einem Interview mit dem deutschen Musikmagazin Spex seinen Wechsel zum Soul mit der Möglichkeit, dadurch mehr Hörer zu erreichen: «Deswegen beschränkte ich mich auf Soul, der durch seine Melodien leicht zugänglich ist und Raum für Botschaften lässt.»
Auch Plan B aka Ben Drew aus London nahm vor einigen Jahren noch eine Hip-Hop Platte auf. Dieses Jahr wandte auch er sich mit «The Defamation of Strickland Banks» dem Sound von Motown zu. Wochenlang stand das Album an der Spitze der britischen Charts und die Single «She Said» brachte es auch hierzulande in die vorderen Ränge. Das Konzept-Album erzählt die Geschichte von Strickland Banks, einem gescheiterten Soulkünstler, der sich nach einer durchzechten Nacht vor Gericht wieder findet und zu Unrecht wegen Vergewaltigung verurteilt wird. Plan B verfolgt die Zuwendung zum Soul weniger konsequent als Aloe Blacc, immer wieder fällt er in alte Muster zurück und Rap folgt auf Soul und umgekehrt. Und doch: auch hier hat Plan B den Soul als neues altes Ausdrucksmittel entdeckt und kommt daher, «als hätte er nie etwas anderes gemacht als Soul», titelt laut.de.
Angefangen hat das nun auf einem vorläufigen Höhepunkt angelangten 60er Soul-Revival vor einigen Jahren auf den britischen Inseln mit Amy Winehouse, Duffy, Adele und Co. Mit dem Album «I Learned The Hard Way» von Sharon Jones & The Dap-Kings, der ehemaligen Backingband von Amy Winehouse, gelangte das Revival zu Beginn dieses Jahr endgültig zum Durchbruch. Jones, die bis vor kurzem für viele Labels noch «zu klein, zu fett, zu alt, zu hässlich und zu schwarz» war, besingt auf dem Album Liebe und Kummer mit einer verblüffenden Authentizität. «Es geht darum, den Soul so zu machen, wie er sein sollte: schmutzig, kantig, warm», beschreibt die Bandleaderin ihre Musik. Mit «Money, where have you gone to?» liefert sie zudem das Vorspiel zu Aloe Blaccs Dollar-Hit.
Auf dem Höhepunkt dieser neuen Soul-Welle veröffentlichte auch das Berner Duo 2forSoul (siehe auch «Musik für Raphael Jakob») mit «To the Bone» eine neue Platte. Ihr Ansatz ist, zumindest was die Klangästhetik betrifft, ein ähnlicher wie jener von Sharon Jones, jedoch in einem stark reduzierten Rahmen. Das Duo kommt gänzlich ohne Bläser und Backing Vocals aus. «To the Bone» eben. Doch der Ansatz ist kein innovativer; 2forSoul spielen ausschliesslich Covers alter Soul-Klassiker von Marvin Gaye, Bill Withers oder Al Green. Aber: Vielleicht gelingt es 2forSoul ja gerade auf diese Art und Weise, die anglo-amerikanische Soulbegeisterung bis nach Bern zu tragen.
Ist Hip-Hop nun wirklich tot? Dass sich ehemalige Rapper wie Aloe Blacc und Plan B in jüngster Zeit dem Soul zuwenden, mag das eingangs erwähnte Statement unterstützen. Eine weitere Neuerscheinung widerspricht, wenn auch nur teilweise: «Wake Up!» ist eine Kollaboration zwischen dem amerikanischen R’n’B‑Sänger John Legend und der Hip-Hop Gruppe The Roots. Im Zentrum stehen Covers von politischen Soulnummern aus den sechziger und siebziger Jahren. Ziel von «Wake Up!» ist es, die politische Aufbruchsstimmung des Obama-Wahlkampfs von 2008 einzufangen. Heute, mitten in einer grossen politischen Krise der Obama-Regierung, klingt dies schon fast nostalgisch. Und wie steht es um den Hip-Hop? Auf «Wake Up!» ordnet sich dieser dem Soul klar unter. Tot ist er aber noch lange nicht. Immer wieder gelingt es ihm, sich dem Soul zu entziehen und diesen zu kommentieren.
Die Liste von neueren «Retro»-Soul-Erscheinungen liesse sich noch weiter fortsetzen. Unter anderem wäre da noch der amerikanische Hip-Hop-Produzent Mayer Hawthorne mit seiner bezaubernden Falsett-Stimme zu nennen, oder auch Ben L’Oncle Soul aus unserem westlichen Nachbarland. Mit seinem Cover der Stadion-Hymne «Seven Nation Army» hat er die Baseballs 15 Jahre jünger gemacht.
Fakt ist, der Soul hat Rückenwind. Ob Politisch (Aloe Blacc, John Legend& The Roots), narrativ (Plan B), schmutzig und kantig (Sharon Jones) oder puristisch (2forSoul): Er ist zurück, in all seinen Facetten. Wenn man bedenkt, dass es immer rund zwei Jahre länger geht, bis musikalische Trends in Bern ankommen, lässt sich zuversichtlich ins Jahr 2012 blicken. Vielleicht wird ja dann im Zuge dieser Soul-Welle auch die vor einigen Jahren abgesetzte «Northern Soul» Party-Reihe im Dachstock der Reitschule wieder aufgenommen…
Foto: zVg.
ensuite, November 2010