Von Andreas Meier — «Detachment» ist die Geschichte der letzten Wochen im Leben einer sterbenden High School, hauptsächlich erlebt und erzählt aus dem Blickwinkel des Aushilfelehrers Henry Barthes (Adrien Brody). Oder vielleicht ist es eher die Geschichte von Henry Barthes, erzählt aus dem Blickwinkel der Schule. Beide sind Protagonisten auf ihre Art, und der Film spielt im Schnittpunkt zwischen den beiden.
Barthes, ideell auf dem rechten Weg in der Welt, aber emotional entfernt, entfremdet und detachiert von ihr, irrt von einer Schule zur nächsten in der verzweifelten und vergeblichen Herausforderung, seinen Schülern Führung und Halt zu geben, und gleichzeitig genug Abstand von ihnen zu halten, um nicht von ihnen in einen Abgrund gezerrt zu werden, sollte er scheitern. Die Schüler sind desinteressiert und wütend, die Eltern abwesend, die Lehrer (ein beeindruckender Cast, unter anderem James Caan, Lucy Liu, Marcia Gay Harden und Christina Hendricks) verzweifelt oder zynisch. Doch natürlich zeigt der Film mehr als diese erdrückende Monotonie in Barthes Alltag; mehrere Ereignisse erweisen sich als potentiell lebensverändernd, allen voran Barthes «Taxi Driver»-esques Treffen mit der minderjährigen Prostituierten Erica (Sami Gayle), welche er in seiner sonst so einsamen und kargen Wohnung aufnimmt. Bald wird klar, dass er ihre Gesellschaft mindestens ebenso nötig hat wie sie Obdach und eine Vaterfigur, da er seine übliche Distanz in diesem Fall nicht wahren kann.
Detachiert bedeutet (laut Duden) «losgelöst von eigener Anteilnahme». Barthes Distanzierung kommt jedoch nicht von zu wenig, sondern von zu viel Anteilnahme. Es ist eine paradoxe und komplexe Figur. Barthes ist ein engagierter Lehrer, doch die einzige Art, wie er sein Engagement aufrecht erhalten und funktionieren kann, ist sich emotional von sich selbst und seiner Umwelt zu entfremden. Er wirkt stark und selbstsicher vor seinen Schülern, doch seine ruhige Gelassenheit ist in Wirklichkeit nichts anderes als vorsichtig kultivierte Gleichgültigkeit. Sie ist ein Instrument, das Henry so lange benutzt hat, dass es mit ihm verwachsen ist.
Doch der Fokus des Films sind nicht die Übel der Detachiertheit, sondern die prekäre Gratwanderung zwischen ihr und ihrem Gegenteil, der Verwurzelung in der Welt. Beide werden sowohl negativ wie auch positiv konnotiert. Mehr Anteilnahme ist Barthes’ Ziel, doch hat sie auch eine dunklere Seite, was Barthes einmal «ubiquitous assimilation», also allgegenwärtige Assimilation nennt: die unterschiedslose, krankmachende Aufnahme in sich von allem. Teilhafte Loslösung und Distanz ist das Mittel dagegen. Zu viel Anteilnahme, und Henry bricht zusammen unter dem Gewicht der Unmöglichkeit, seinem Verantwortungsgefühl gerecht zu werden. Zu wenig, und er verrät die Ideale, die ihn am Leben halten und wird zu einem Teil des Problems, das er hasst und eigentlich bekämpfen möchte. «Detachment» ist voll von Figuren, die in diesem Balanceakt ihr Gleichgewicht schon lange verloren haben oder gefährlich hin- und herschwanken.
«Detachment» nutzt filmische Techniken, um dem Zuschauer dieses Schwanken und die Verwirrung der Figuren näher zu bringen. Es ist ein fragmentierter, subjektiver Film, kein organisches Ganzes aus einer künstlichen, objektiven Perspektive. Gerade deshalb ist «Detachment» selbst kein detachierter Film. Er wirkt häufig auf eine schmutzige, materielle Art und Weise realistisch und fassbar, ist aber gleichzeitig auch in einer Weise poetisch und so weit entfernt vom Alltag, dass er ein allegorisches Gewicht erhält: hier geht es sicher um Schulen und die Verantwortung von Lehrern, doch gleichzeitig auch um einiges mehr.
Es ist in mancher Hinsicht ein apokalyptischer Film. Das Ende dieser einen Schule steht metaphorisch für den Untergang aller Schulen, ja für einen völligen Zusammenbruch jeglicher Kommunikation zwischen den Generationen. Doch es ist keine plötzliche Apokalypse. Hier gibt es keine «gute, alte Zeit», als das noch alles geklappt hat. Das Versagen der Schüler ist hier das Versagen ihrer Eltern und Lehrer, und deren Versagen wiederum das Versagen der vorhergehenden Generation. Barthes Trauma wird zurückverfolgt über seine Mutter bis zu seinem Grossvater, und er kämpft, um seine Probleme nicht an seine Schüler weiterzugeben.
Andererseits ist es aber auch ein hoffnungsvoller Film, der die Möglichkeit einer Lösung für das ganze Dilemma immer wieder verlockend knapp ausser Barthes Reichweite baumeln lässt. Beeindruckend ist, dass «Detachment» sich am Ende einer einfachen Antwort verweigert und weder versucht, Barthes Hoffnungen (oder die des Zuschauers) im Nachhinein als naiv hinzustellen, noch für all die Probleme eine viel zu einfache Auflösung zu präsentieren. In den Händen vieler anderer Regisseure (hier übrigens Tony Kaye, Regisseur etwa von «American History X») hätte dieser Film leicht in einem Sumpf aus Kitsch oder Pathos absaufen können, was glücklicherweise vermieden wurde. Vielleicht trägt dieser schwarzmalerische Film in anderen Aspekten ein oder zwei Spuren zu dick auf, aber das ist wohl ein ebenso notwendiges wie geringes Übel, um eine solche Intensität zu erzielen, die emotional wie intellektuell fordert.
Regie: Tony Kaye. Drehbuch: Carl Lund. Darsteller: Adrien Brody, Marcia Gay Harden, James Caan, Lucy Liu, Christine Hendricks, Sami Gayle u.a. USA 2011.
Foto: zVg.
ensuite, März 2013